Team Bittel
 

30. Rennsteig-Lauf (74,3km), 25.05.2002  

Autor:  ErwinBittel   E-Mail: erwin@teambittel.de
Letzte Änderung: 25.05.2002 10:49:36

Endlich, seit langem will ich bei diesem traditionsreichen Event schon dabei sein, aber erst jetzt hat es geklappt. Manchmal brauchen Dinge ihre Zeit, denke ich mir. Und es ist gut so. Die letzten Jahre gab es entweder stundenlang Regen oder war auf den Gipfeln eiskalt. Nicht so 2002, ich sollte unverschämtes Glück haben. Und ich denke auf einen solchen Lauf muss man sich lange mental einstellen.

Der Tag vor dem Start



Nun der Reihe nach. Ich treffe meinen guten Freund und Laufkameraden Michael in Coburg, wir fahren von dort (getrennt) weiter in den Thüringer Wald. Er wir den Marathon laufen, ich den Ultra. Unsere Starts liegen über 100km auseinander, wir werden aufeinander zu laufen. Welch eine Vorstellung! Bis Hildburghausen geht nur ein Bus, es gibt hier noch immer keine Schienen über die ehemalige DDR-Grenze. Mir ist etwas mulmig im Bauch: ob ich diesen Berglauf durchstehe? Ich weiß nicht. Und wie lange würde ich brauchen? Der älteste und größte deutsche Landschaftslauf wirft seine Schatten voraus. Am Handy habe ich Michael, der mittlerweile angekommen ist. Es beruhigt mich. Dann steige ich in den nagelneuen ruhig durch die fantastische Landschaft gleitenden Zug mit Panoramablick. Ich werde weiter ruhig. Außer mir ist meist niemand im Zug. Es ist Freitagabend. Als ich Eisenach erreiche ist es eine Leichtigkeit die Ausgabe der Startunterlagen zu finden. Die ganze Stadt scheint Bescheid zu wissen. Ich fühle mich ganz schnell daheim in der kleinen charmanten Stadt. Die Leute in der Stadtverwaltung sind übernett und geben mir sogar um 22.00 Uhr noch meine Startnummer auch wenn ich wohl der Letzte bin. Wir scherzen und man weist mir die 4km Weg zur Sammelunterkunft im alten Gymnasium. Ich laufe los, Schlafsack und Iso-Matte unter dem Arm, Rucksack am Rücken. Auf dem Weg treffe ich Boris aus Köln, der sich Mut angetrunken hat, und damit wohl auch seine Aufregung dämpft. Die Strassen sind fast leer. Angekommen schickt man mich in den Keller, alle anderen Räume des großen Schulhauses sind voll, sogar die Gänge. Es ist eine ruhige Stimmung, jeder grüßt und hilft jedem. Die meisten bereiten schon ihr Lager und legen sich die Laufsachen für morgen zurecht. Um 6.00 Uhr soll Start sein! Doch ich bin gar nicht müde und setze mich in die laue Nacht, betrachte den Himmel. Ich blättere in den Unterlagen und sehe mir das Streckenprofil an. Viele Steigungen, manche sehr steil. *schluck*. Egal, ich werde sehen... Dann esse ich mein bisschen Proviant, und erhalte die letzten Bissen der Essensausgabe. Der sympathische und beruhigende Schulleiter persönlich leistet mir Gesellschaft. Boris, Thorsten und noch zwei, drei sind außer mir die einzigen, die noch nicht müde sind von den vielleicht 1.000 Leuten hier. Ich fühle mich gut aufgehoben hier und habe noch ein paar nette Gespräche. Um 1 Uhr lege ich mich hin. Um 3 Uhr (!) weckt mich das Küchenpersonal, ab 4 Uhr gibt es Frühstück. Ich habe im Speiseraum gelegen!


Das Schöne hier ist die familiäre Atmosphäre! Man kann viele Leute in Ruhe am Vorabend kennen lernen, Erfahrungen austauschen, Tipps sammeln.



Start um 6 Uhr morgens


Um 5:20 Uhr fährt uns der Bus zum Start am bereits wuselnden Marktplatz. Es ist kühl aber ich friere nicht. Das wird ein guter Tag! Ich spüre weit weniger Aufregung und unruhiges Gelaufe der Läufer als bei einem Straßenlauf. Wie angenehm ist das! Ich erkenne niemanden Bekanntes, begegne aber unheimlich vielen netten Lächeln. Plätzchen zum Dehnen gibt es genug. Dann laufe mich 5 min ein, noch mal Dehnen. 2.000 Starter und kein Gedränge. Wie ist das schön! Und locker auch der Start: Musik, wenig Blabla, *plopp*. Und schon laufe ich.


Es geht sofort bergauf, die ersten 25km gehen bergauf zum Inselberg auf 910m Höhe. Ich beginne langsam, finde mein Tempo nach etwa 10km. Es ist schattig auf den Waldwegen, der Boden ist trocken und weich federnd, so dass es mit guter Leichtigkeit aufwärts geht. Ich horche so intensiv wie nie in mich, betrachte mich innerlich förmlich mit der Lupe, bremse mich, lege Reserven. Ja, Rennsteig, da bin ich!



Die erste Hälfte bis km 37,5



Nach 7km Wald gibt es die erste Getränkestelle, Cola und Wasser, nach 13km dasselbe. Ich trinke und genieße die Begeisterung und prima Atmosphäre hier! Keine Hast und für jeden genug. Die Helfer scheinen alle aus einer Familie zu sein, die Kinder helfen fleißig mit. Und es sollte noch besser werden, alle etwa 5km (Verpflegungs- und Getränkestellen im Wechsel). Exakt alle 5km steht eine km-Markierung. Ich beobachte meinen Puls und stelle fest, dass er deutlich niedriger als beim Marathon ist. Ich fühle mich prima, lese km20 und freue mich auf das baldige Ende dieses langen Wegs bergauf. Ich laufe sehr konstant, Füße alright, schwinge in meinem besten Rhythmus, fühle mich prächtig. Naja, sind ja auch erst 20km. Ich bemerke, dass jemand schon eine Weile dicht hinter mir läuft. Andreas fragt mich bald höflich, ob es okay ist, wenn er hinter mir bzw. mit mir läuft. Welch ein Stil hier herrscht! Miteinander statt nebeneinander. Ich unterhalte mich mit ihm und er beschließt bei mir zu bleiben. Immer wieder stehen einzelne Fans unter den Bäumen im Wald, meist ältere sehr engagiert anfeuernde Herren. Einer, der hinter sich ersichtlich ein langes Leben hat läuft ein paar Meter mit mir und ruft mir "89" zu. Ich hebe meinen Daumen und gratuliere ihm zu der prima Fitness in seinem hohen Alter: "Respekt!". Doch er freut sich wenig, redet etwas von "Platzierung" und mir wird schlagartig klar: "hey, ich bin wohl zu schnell!". Das kann doch nicht sein, oder? Während ich ganz tief in mich gehe und feststelle, dass doch alles bestens ist, ... ha! Km25 "Inselberg 910m". Über 700m Aufstieg sind geschafft! Es ist neblig, ich bin in den Wolken. Ich spüre meine Oberschenkel leicht. Jetzt wird es wohl endlich bergab gehen, oder, eh? Ja, und wie steil. 1,5km, zuerst Treppen, Balken, Wiese, huch ist das steil! Aufpassen und bremsen. Das alles geht auf die Knochen, staucht die Füße. Aber jetzt kommen 10km zum erholen, nur wenige Hügel: Leider ist es trotzdem nie ganz eben. Bei km37,5 steht ein uriger alter Herr und bläst in ein riesiges Horn, neben sich das Schild "die Hälfte ist geschafft". An einer Hütte stehen dutzende Kinder, Musik spielt, alle bestaunen uns ehrfürchtig. Hey, ist das ein Gefühl! Ich fühle mich wie unter Freunden und richtig wichtig. Ich bleibe kurz stehen, orientiere mich, lese: Wasser, Cola, Isodrink, Bier, Thüringer Bockwurst (!), Brühe... Für jeden etwas, und wenn ich Mai-Bowle bestellt hätte, ich wette, die hätten sie auch gehabt! Vielleicht fünf Kinder fragen mich gleichzeitig ob ich "Schleim" wolle? Ich sage stirnrunzelnd vor mich hin "Schleim???", und sofort habe ich zwei Becher davon in der Hand. Einer mit rosa, der andere mit lila Etwas drin. Eh? Was ist das??? Ach ja, Michael hatte mir gestern gesagt dass es in der DDR ja keine Bananen gab und man einen Haferschleim mit Geschmack entwickelt hätte. Tradition, die bleibt. Typisch und nur hier zu finden. Schon deswegen hätte ich davon probieren sollen, aber ich entscheide mich doch für warmen Tee. Sorry liebe Thüringer!



Die zweite Hälfte



Irgendwo habe ich Andreas verloren, er atmet nicht mehr hinter mir. Schade. Ich laufe konstant meinen Schritt, erinnere mich an den dicken Berg bei km43, und schon kommt er. Ich spüre die Gedanken vieler meiner Freunde, die jetzt bei mir sind. Danke! Immer noch gibt es gute Waldwege, es ist trocken, kein Wind, kein Regen. Welch ein Glück, denke ich mir. Ich lasse auch an diesem Anstieg (wie an allen) die an mir vorbei, die es wollen. Und es sind alle. Meine Taktik ist eine andere. Bergauf Reserven legen, bergab leichtfüßig fliegen. Auch diesen Gipfel habe ich gemeistert, blicke einen Moment lang in die grüne Weite der Täler und Wälder. Schön! Und da seid ihr ja alle wieder, die von bergauf. In Gedanken muss ich das km50-Schild verpasst haben. Ich bin jetzt schon 4 Stunden unterwegs und esse zwei halbe Bananen. Mehr geht nicht hinein. Bis km54 läuft es sich zwar flach, aber ich spüre langsam die km in meinen Beinen. Ehrlich. Hier ("Grenzadler") war der Halbmarathon-Start, ist ein Aufhören möglich, eine Zeitnahme erfolgt: Hunderte Leute applaudieren mir. Ich laufe schon eine ganze Weile ohne jemanden in meiner Nähe. Ich freue mich, dass auch dieser Tee warm ist. Und weiter. Ui, schon wieder bergauf. Jetzt wird es etwas anstrengend, ich treffe einige Walker-Gruppen und es ist mir eine Weile etwas warm. Und noch einmal bergauf-bergab. Ich spüre ein leichtes Drücken und Ziehen im Magen. Aber nach einigen km geht es wieder weg. Die höchste Erhebung soll noch kommen: km62, "Großer Beerenberg 982m". Mann, ist der steil! Ich gehe, flott, aber ich gehe. Ich bin nicht viel langsamer als die, die laufen. Nur noch 10km, motiviere ich mich. Von nun an soll es nur noch bergab gehen. Na, auch die kleinste Ansteigung ist jetzt ein Berg. Bei Verpflegungsstelle km65 will ich essen, aber mehr als eine halbe Banane passt nicht rein. Seit einer Stunde tauchen immer wieder einzelne Läufer vor mir auf, ich hole allmählich auf und ziehe in Zeitlupe aber grüßend vorüber. Irgendwas reden wir immer kurz miteinander. Ob ich es bis ins Ziel schaffe? Meine Oberschenkel zittern manchmal, ich spüre den Ansatz von Krämpfen, konzentriere mich auf extreme Lockerheit, lasse alles fallen, lasse alles los. Zum Glück kommt kein Krampf. Ich kann nur noch eine Geschwindigkeit laufen. Ein paar hundert Meter Straße. Immer mehr Walker tauchen auf, ganze Gruppen mit Rucksäcken. Manchmal muss ich rufen, denn sie hören mich nicht kommen. Alle applaudieren und ermuntern mich, selber seit Stunden unterwegs. Das baut mich auf, und ich beschließe, egal wie es kommt, notfalls gehe ich eben mit ihnen walken. Wäre mir egal. Hab doch schon ganz schön was geschafft bis jetzt. Aber es geht noch, und plötzlich wieder richtig gut. Km70. Ich spüre wie meine Schultern locker schwingen und lasse mich von meinen Füßen bergab tragen. Jetzt ist es meist breite Straße, ich kann frei laufen. Noch zwei Steigungen (ich dachte es kämen keine mehr!), die letzte zieht sich schon arg, aber ich sehe mich in Gedanken schon im Ziel (und auf einem Stuhl sitzen). Km72, irgendwie stimmen die letzten Markierungen nicht mehr. Das muss so sein. Ich bin hin und her gerissen zwischen "hey Mann, aufpassen!" und "das gibt’s doch nicht!".



Der Weg ins Ziel



Ich überhole noch zwei, noch einen und das brodelnde Ziel kommt immer näher. Ich höre den Sprecher, die Musik, weiß nicht welche. Aber ich nehme jede Note mit in meine Schritte. Meine Füße beginnen alleine zu laufen. Immer mehr Zuschauer. Ich höre meinen Atem, mein Herz schlägt ruhig, Puls niedrig wie zu Anfang. Ich laufe auf Wolken. Eh, das ist Birgit, die das sitzt und winkt. Jetzt um die Ecke, da ist er, der Zieleinlauf. Lass rollen, fliegen! Sekunden Stille, ich höre nichts, bin für mich.


Piiiep-piep! Wow! Ich habe es geschafft! Ich habe es wirklich geschafft. Oh, bin ich stolz. Der Rennsteig und ich. Wow, was für ein Erlebnis. - Nein, was sagt die Ziel-Uhr? (6:14 h). Gibt es nicht. Kann nicht sein. Was auch? Egal. Medaille um den Hals. Hey, die ist schön grün. Und wo ist jetzt mein Stuhl? Stuhl, wo bist Du?


Ich verschnaufe und es geht mir bald wieder gut. Ich trinke fleißig, sitze, freue mich, dass Birgit da ist. Sie war 15km Walken. Wir umarmen uns. Und nach 15 min beginne ich mit Dehnen. Es geht gut. Erstaunlich. Dann nieselt eine plötzlich kurz. Und irgendwann kommt Michael ins Ziel, der 3 Std. später startete. Wir umarmen uns. Was für ein Erlebnis! Wir erzählen uns wie es war und freuen uns. Am Ziel-Platz hier ist ein kleines Volksfest, es gibt Essen und Trinken, Musik und ein Bierzelt. Richtig gute Organisation. Immer mehr Läufer laufen ein, hier im gemeinsamen Ziel. Ich ziehe mich um, weil mir kalt wird. Weiter Dehnen. Ich kann gut gehen, Michaels Freundin kommt und wir gehen ins warme Zelt. Müde und glücklich fahren wir wieder heim.


Erwin vom "Team-Bittel"


Starter: 15.533 (HM 5.611, Marathon 3.511, Ultra 1.475, Rest=Walker)


Finisher: Ultra (1.381, 10% Frauen): Europa-Cup + Dt. Meisterschaft Marathon (3.474) Halbmarathon (5.582)


Infos: www.rennsteiglauf.de


 
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