Team Bittel
 

29.08.2008: CCC Courmayeur, Champex-Lac, Chamonix 2008 und das Zeitfallbeil  

Autor:  BernhardSesterheim   E-Mail: SesterheimGmbH (at) web.de
Letzte Änderung: 30.10.2008 01:41:32

3 Länder 98 km und 5600 Höhenmeter, max. 26 Stunden. Ein Auszug aus dem Lauferlebins am Mont Blanc, das Bernhard schon 2006 einmal erlebte. Rennen gegen die Cut-Off-Zeit.

…noch ca. 2 km sind es bis zum Großverpflegungsplatz Champex und wieder mal geht’s steilpfadig nach oben und in 10 Minuten muss ich die Cut-off-Stelle Champex-Lac verlassen haben, sonst geht man mir an die Startnummer. Une mission impossible, und ich fühle mich kotzelendig, als eine am Wegesrand kauernde Gestalt meinen Namen ruft. Es ist Christian, mit seinen 22 Lebensjahren einer der jüngsten Teilnehmer des Rennens, den ich bereits beim 1. Kilometer nach dem Start kennen lernte und mit dem ich zwischenzeitlich etliche km zurückgelegt hatte. Nach Fouly hatte er eine schnellere Gangart eingelegt, die Hoffnung hegend, dem drohenden Zeitfallbeil doch noch entkommen zu können.

„Ja Bernhard“ ruft er mir zu „ ich habe es versucht… aber nun bin ich total erschöpft!“ Ich lasse mich neben ihm auf dem Waldboden nieder, versuche ihn zu trösten und wir betrachten die Kolonnen der an uns vorbeistampfenden Trail-Teilnehmern, die es ja alle nicht mehr schaffen können und in wenigen Minuten wie wir aus dem Rennen genommen werden. Nach ca. 10 minütiger Pause – die Cut-off-zeit ist mittlerweile überschritten – begeben wir uns wieder auf den Weg, der weiterhin steil nach oben Richtung Champex führt.

Eine Viertelstunde später erreichen wir das Zwischenziel, seltsam… es sind noch viele Zuschauer trotz dieser mitternächtlichen Zeit anwesend und beklatschen uns enthusiastisch…

Freudlos begeben wir uns ins chaotisch wirkende Zeltinnere und zuerst leere ich eine Liter-Flasche Coca-Cola ohne abzusetzen zur Hälfte. Ah, die Lebensgeister erwachen sofort wieder und umso wehmütiger empfinde ich jetzt die Situation als DNF-ler.

Christian hat großen Appetit und verschlingt alles mögliche Essbare. Ich kann mir leider nur mit Mühe eine Nudelsuppe in den Magen zwingen. Wir legen uns auf die Sitzbänke und strecken alle Viere aus… Ja, das war´s dann, wir haben einfach zuviel Zeit durch die Zwangspausen verloren, die am Anfang des Rennens entstanden, als sich lange Läuferstaus an schwierigen Wegestrecken bildeten… so denke ich.

Nach wenigen Minuten geht es mit mir körperlich schon wieder sehr viel besser und bedauere zutiefst, am Rennen nicht mehr weiter teilnehmen zu können… Auf einer Bank neben mir weint eine junge Frau hemmungslos und ihr männlicher Begleiter versucht sie durch Umarmen zu beruhigen. Einige Tische dahinter übergibt sich gerade ein erschöpfter Läufer sehr geräuschvoll…

Ich greife mir an den Verpflegungstischen eine neue Flasche Coca-Cola und als ich zu Christian zurückkehre, macht er mich auf einen Schnellredner aufmerksam, der mit Mikrofon am Zeltausgang steht.

„Encore une Minute!“ kann ich vernehmen. Ach…, ja mir kommt jetzt meine nicht beschnittene Startnummer in den Sinn. Läuft etwa das Rennen noch? Hat man die Sollzeit verlängert? Freudige Hoffung keimt, hastig wird der Rucksack aufgenommen und im Sprinttempo geht´s zum Zeltausgang, wo sofort meine Startnummer gescannt wird.

Ja, wir sind noch im Rennen, hurra!

„Komm Christian es geht weiter!“ - „Nein, es ist sinnlos, ich kann nicht mehr…“ muss ich vernehmen.

Nach ca. 50 m drehe ich mich nochmals um und Christian winkt mir zum Abschied zu. Ich winke zurück und bin traurig, denn sehr gerne hätte ich den Jungen als Begleiter bei mir, könnte ich ihm doch beweisen, was ich schon lange weiß, dass auch nach nur sehr kurzen Belastungspausen der Körper sich wieder rasch erholt…

Es ist wieder eine kalte Nacht, nur wenige Grade wenn überhaupt über dem Gefrierpunkt – genau so wie vor 2 Jahren, als ich mit Bill Nickl an dieser Stelle war.

Am Ufer des innerstädtischen Bergsees verläuft jetzt die Strecke auf dem Bürgersteig. Einige zig Meter vor und auch hinter mir sind Läufer einzeln und in Gruppen erkennbar, die alle sich in etwa meinem Tempo vorwärts bewegen. Ich bin wieder hellwach und optimistisch, doch noch in der nun um eine Stunde verlängerten Zeit rechtzeitig heute Nachmittag in Chamonix ankommen zu können, denn nur noch ein Marathon ist zu bewältigen…

Nach Verlassen des Städtchen Champex-Lac laufe ich jetzt auf einem gut ausgebauten Waldweg moderat bergab und genieße die nächtliche Stille, die ab und an nur durch das Rauschen von kleinen Gebirgsbächen unterbrochen wird.

In Abständen von wenigen 100 Metern sind an den Bäumen oder Büschen reflektierende Plastikstreifen angebracht, die einem das sichere Gefühl, auf dem richtigen Weg zu sein, vermitteln. Es ist ein großes Plus dieser Rennorganisation im Vergleich zu anderen Trails wie beispielsweise dem Hauptkonkurrenten in Reunion, wo es in dieser Hinsicht viel weniger perfekt zugeht.

Es ist mittlerweile nach 2.00 Uhr, und ich bin kein bisschen müde. Und plötzlich ändern sich die Wegeverhältnisse, aus einem Forstweg wird ein Bergpfad, der jetzt steil nach oben führt. Ein starkes Rauschen kündigt den ersten Wildwasserbach an, der dann von Stein zu Stein hüpfend überquert werden muss.

Ich bin am Respekt gebietenden Bovine angekommen. Eine viele hundert Meter hohe Wand sehe ich vor mir, an der an unterschiedlichen Plätzen Lichter aufblinken, die wie Glühwürmchen wirken und von den Stirn- oder Taschenlampen der vor mir aufsteigenden Läufer herrühren.

Ja ja, der Bovine ist natürlich ein Monsterberg, wie ich vor 2 Jahren erfuhr, und noch eine neue Herausforderung in Form eines weiteren Bergungetüms wurde zwischenzeitlich in den Trailverlauf integriert. Klar doch, weitere mentale und physische Achterbahnfahrten werden nicht lange auf sich warten lassen – aber ich weiß ja, wie das geht… rede ich mir ein.

Ich kenne die Gegend gut von 2006 und die schwersten Kilometer des Rennens stehen jetzt unmittelbar bevor. Es ist eigentlich kein Pfad mehr, auf dem ich mich fortbewege und ohne die eben erwähnten fluoreszierenden Plastikstreifen an den Bäumen, die ca. alle 50 Meter zu sehen sind, wäre jetzt in der Nacht eine Orientierung unmöglich. Der Weg bildet für mindestens 1 Stunde eine einzige Geröllhalde, die zum großen Teil aus mehrere Meter dicken Felsbrocken besteht. Erstaunlicherweise fühle ich mich gegenwärtig in besserer Verfassung als 2 Jahre zuvor, obwohl die zurückgelegte Strecke länger und auch schwieriger geworden ist.

Wahrscheinlich liegt es an dem Gebrauch der Walkingstöcke, die ich heute dabei habe und die wirklich Erleichterung sowohl beim Bergauf- als auch beim Bergablaufen bringen. Ja, ich komme tatsächlich für meine Begriffe recht flott voran. Hin und wieder mache ich kurze Ruhepausen, indem ich mich rücklings auf den Boden lege und die Beine angelehnt an Felsen nach oben strecke.

So mache ich gerade wieder eine Entspannungspause, als ein Vierertrupp von französisch sprechenden Läufern auf mich aufläuft.

Einer leuchtet meine Startnummer an, auf der mein Name und die Nationalität zu erkennen ist und spricht mich in fast perfektem Deutsch mit dem typischen mir sehr sympathischen französischen Akzent an: „Bernhard, wo ist Dein junger Freund?“

„Christian hat leider in Champex-Lac aufgegeben!“. „Schade, dann schließe Dich doch uns an. Gemeinsam geht alles besser“

Ich tue es und wir sind nun zu fünft. Jetzt bemerke ich, dass er einen Höhenmesser besitzt und frage ihn, wie viel Meter es noch bis zum Pass sind. „Nur noch ein Eifelturm“ ist die Antwort. Also nur noch 300 Meter. Na, dann haben wir es ja bald geschafft.

Nach wenigen 100 Klettermetern macht die angenehme Franzosengruppe eine längere Pause, weil einer von Ihnen unbedingt entspannen muss. Ich verabschiede mich mit "a bientot".

Nach einiger Zeit habe ich dann den Kletterparcours überstanden, ohne mich, wie 2006 überanstrengt zu haben. Über mehrere km ist jetzt auf einem guten Pfad nur ganz allmählich ansteigend gut zu laufen. Ja, ich kann jetzt sogar joggen und fühle mich "great", wie die Amerikaner sagen würden.

Rechts neben mir geht es steil nach unten und ca. 1,5 km tiefer kann ich die Lichter der schachbrettartig angelegten Stadt Martigny erkennen. Bald ist die Verpflegungsstelle am Pass erreicht, wo ich meine Trinkblase mit Wasser auffülle und mich mit großen Schlucken Coca-Cola erfrische. Hier treffe ich wieder auf Peter Ickert, einen Berliner Läufer, der auch 2007 diesen Trail gefinisht hatte.

Unterwegs waren wir uns mehrmals begegnet und ich war der Meinung, er wäre weit vor mir.

Gemeinsam setzen wir jetzt unsere Reise fort und sind beide optimistisch, das Rennen in Chamonix beenden zu können.
Ca. 1 km führt die Strecke noch, leicht zu laufend über den Berg und dann kommt der Abstieg… Allmählich geht der Pfad wieder in eine Geröllhalde über und alle Schikanen wie große Felsbrocken, spitze Steine, glitschige Erde und Stolperwurzeln machen ein behändes Absteigen unmöglich. Peter läuft etwas voran und an einer Biegung rutschen mir auf nasslockerer Erde die Füße weg. Geistesgegenwärtig werfe ich im Fallen die Walkingstäbe nach vorne und lande weich auf meinem Hintern….

Das Adrenalin jagt durch meine Gefäße und ich betaste und begutachte mich im Schein meiner Stirnlampe. Ich sehe nirgends Blut und verspüre auch keinen Schmerz, der aus einer Sturzverletzung resultieren könnte.

Es war anscheinend nur eine Mahnung, die ich soeben erhalten habe und ich gelobe, sie zu beachten. Folglich bewege ich mich noch vorsichtiger und langsamer weiter. Absolute Priorität hat jetzt die Sicherheit und ich schaue nicht mehr auf meine Uhr.

Endlos erscheint jetzt dieser steil nach unten führende Pfad. Peter sehe ich nicht mehr, und ich werde von einigen Läufern überholt, denen ich immer bereitwillig Platz mache.

Trotz der Kälte schwitze ich sehr und mit Grausen sehe ich auf der anderen Talseite die Lichter der langsam bergauf gehenden, sich einige km vor mir befindlichen Läufer, die die Cut-Off-Stelle Trient schon hinter sich gelassen haben.

Endlich sehe ich eine Autostraße ca. 100 m unter mir und ich laufe wieder auf Peter Ickert auf. Ihm geht es ebenfalls nicht gut... Wir traversieren die Straße und gelangen nach ca. 1 km in die Stadt Trient. An einer Straßenkreuzung steht ein großer Bus mit laufendem Motor. Ich betrachte ihn mir genau und muss feststellen, dass fast alle Sitzplätze belegt sind.

Nun schaue ich zum ersten Mal wieder auf meine Uhr und stelle fest, dass die um eine Stunde verlängerte Cut-Off-Zeit gerade in dieser Minute fällt…
Peter frohlockt gerade und freut sich auf den warmen Bus und der Aussicht, auf einem weichen Sessel zu sitzen und die Beine auszustrecken. Und… mir geht es genau so.

Als ich dann Minuten später vor dem Gebäude ankomme, das als Rast- bzw. als Cut-Off-Platz dient, meldet sich wieder der Held in mir: „Nix Bus! Springe hinein, greife Dir eine große Coca-Cola Flasche, ignoriere den Zeitnehmer und flüchte in den Wald! Lege Dich auf den Boden und saufe das Cola. In wenigen Minuten wirst Du wieder erholt und abmarschbereit sein, wie Du es schon des Öfteren erfahren hast!“

Gedacht, getan. Ich springe hinein und sehe kein Cola auf den Tischen… und der Startnummernabschneider ist sofort neben mir und schneidet ab…

Und ich lasse es wie ein Schlachtschaf widerstandslos über mich ergehen! Die Rückfahrt im warmen Bus auf dem weichen Sitzplatz ist angenehm… und ich bin jetzt nur noch müde….

Doch schon wenige Stunden später meldet sich in mir wieder der Hero und fordert für das nächste Jahr eine Genugtuung…
Ich muss also 2009 wieder nach Chamonix!!

Denn erfolgreich ist zu guter Letzt derjenige, der einmal mehr aufsteht als er hinfällt.


Bernhard


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