Team Bittel
 

06.11.2011 - LGA-Indoor-Marathon, der Lauf der Verrückte macht  

Autor:  KaiSchlachter   E-Mail: murphy§murphyslantech.de
Letzte Änderung: 09.11.2011 23:48:28

Was anfänglich mal ein Geheimtipp mit reinen Fun-Charakter war ist mittlerweile in der Läuferszene gut bekannt - der Lauf zum Jahresabschluss bei dem das Wetter keine Rolle spielt. Die Rede ist vom LGA-Indoor-Marathon, einer Veranstaltung mit ihrem ganz eigenen Flair.
Der Lauf findet nämlich zur Abwechslung nicht in einer Sportstätte statt, sondern im Gebäude des TÜV-Rheinland. Ein recht großer Komplex mit wunderherrlich langen Gängen. Eine Runde ist 767m - kein strikter Rundkurs, sondern es wird auf 2 Ebenen gelaufen. Als Bonbon gibt es daher 2 Treppenhäuser: Einmal pro Runde eine Etage nach unten und natürlich auch wieder rauf. Insgesamt kommen so 455 Höhenmeter zusammen.

Die Organisation ist ein eingespieltes Team, die Startplätze sind aufgrund des Enge der Flure und der Treppenhäuser begrenzt. Nur 120 Einzelstarter über die Halb- oder Marathon-Distanz sind zugelassen, zudem gibt es 30 Staffeln mit je 8 Teilnehmern. Die Verteilung der Rundenzahl ist alleine Sache der Staffel, auch ein kleiner Unterschied zu den sonst festgenagelten Wechselzonen an der Strecke.

Bereits am Samstag hole ich meine Unterlagen ab, zusammen mit einer Streckenbesichtigung. Meine Freundin begleitet mich und kann sich nicht vorstellen, was ich da Verrücktes vorhabe. Nach einem Rundgang will sie sich aber auch mal versuchen. Fazit: Laufen muss man trainieren und die Treppen sind eine echte zusätzliche Belastung.

Am Sonntag treffe ich die üblichen Verdächtigen, Helga und ihr Mann Heinrich sind wieder als Team dabei. Helga läuft, Heinrich kümmert sich um die Fotodokumentation. Wie weit er dabei geht habe ich beim Ulmer 100er gesehen. Diesmal muss er aber nicht frieren. Erstens ist das Wetter wunderschön und für November und erst recht für einen Indoor-Marathon viel zu warm. Thomas und seine Partnerin Susan treffen ein. Hier sind die Rollen genau anders herum verteilt: Thomas nimmt sich wieder die Halbmarathonstrecke vor.

Kurz vor dem Start gibt es letzte Instruktionen, nochmals wird auf das Überholverbot hingewiesen. Das gilt aber nur in den Treppenhäusern, dort ist es zu eng.

Pünktlich um 11:00h geht es los, die Halbmarathonis starten im Untergeschoss. Wir, die Marathonis starten oben. Doch nicht an der Zielmarkierung wie bei anderen Läufen, denn damit die 42,195km zusammen kommen, müssen wir 50m zurück. Vor dem Start bekomme ich damit ein Gefühl wie dicht gepackt es in solchen Gängen werden kann. Gut wenn man weiß, dass sich nach und nach alles verteilt und die Staus sich auf die Treppenhäuser begrenzen, so es sie denn überhaupt gibt.

Die ersten Runden laufe ich wie üblich stark gepusht von der guten Atmosphäre, so richtig Ruhe und Konstanz will nicht einkehren. Man kommt alle 767m am bekannten Radio-Moderator Markus Othmer vorbei, und an den Fans, die lautstark anfeuern. Erstaunlich viele sind mit Klemmbrettern bewaffnet, auf denen Rundenzahlen stehen. Die Profi-Coaches haben eine Stoppuhr dabei und überwachen peinlich genau die Rundenzeiten ihrer Athleten. Bei welcher Veranstaltung gibt es schonmal die Möglichkeit ein so detailiertes Leistungsprofil zu erstellen?

Auch bei mir ist in den ersten Runden etwas komisch: Ich habe Durst, etwas das mir sonst erst zu spät bewusst wird. Andererseits will ich nicht gegen Ende des Laufs in Büsche - äh aufs Klo - verschwinden müssen (auch diese sind jede Runde mehrfach vorhanden). Dennoch greife ich schon in der 4. Runde das erste Mal beim ISO-Getränk zu, geschmacklich ganz ok. Nur ob mein Magen das Zeug auf die Dauer auch so gut findet weiß ich nicht.

Die Runden ziehen gemütlich vorbei. Ich schaue dabei regelmäßig auf meine Pulsuhr. Nur nicht überhasten! Aber genau das wirft mir die Anzeige einige Male vor, wobei ich feststelle, dass meine Pulskurve aussieht wie eine Reihe Haie hintereinander weg: Jedesmal Treppe rauf geht der Puls weit nach oben, bis man dann wieder an der Treppe ankommt ist er wieder im Normalbereich, oder sollte es zumindest sein. Ich merke mir in Runden in denen ich mich gut fühle die Pulswerte zu markanten Punkten. Am Plüschtier vor dem Labor für Spielgeräte, kurz nach dem Treppenhaus abwärts und kurz nach der Versorgungsstelle. So kann ich mich gut einteilen.

Meine Freundin steht anfangs fleißig an der Strecke, feuert an und hält mir alle 5 Runden ein Schild mit der Rundenzahl hin, für den Fall dass ich auf der Leinwand nicht schnell genug geschaut habe wie viele Runden ich schon hinter mir habe. Ich habe mich bewusst gegen das verbissene Zählen der Runden entschieden, das demotiviert mich mehr als es bringt. Nach einiger Zeit machen sich die Fans von Helgas Lauffreunden dünne. Klar, es ist Mittagszeit und die Kantine der LGA fährt eine Sonderschicht für die Besucher. Der Moderator gibt gute Tipps zur Läufer-Ernährung: Wie wäre es mit Wiener Würstchen und Senf? Ich schiebe den Gedanken schnell beseite und halte mich an das was ich seit Runden praktiziere: Alle 4 Runden trinken, mal ISO, mal Wasser (wenn mir der ISO-Geschmack grad wieder den Mund verklebt), und alle 8 Runden ein Stück Banane. Eine derart regelmäßige Energiezufuhr gibt es bei keinem anderen Lauf, es sei denn man hat einen Begleitradler, der einen jederzeit versorgen kann.

Ohne die regelmäßige Angabe der Runden laufe ich entspannt durch die Gänge, alle 7 Runden überhole ich Helga, wir checken kurz gegenseitig ab, ob alles passt und schon geht es weiter, jeder in seiner Geschwindigkeit. Insgesamt habe ich das Gefühl dieses Jahr schneller unterwegs zu sein, zumindest wenn ich nach den Überrundungen durch die auffäligen Läufer gehe. Dietmar Mücke, wieder als Pumuckl verkleidet und barfuss, saust an mir vorbei. Ich erkenne ihn jedesmal schon vorher, das charakterischtische Geräusch von nackten Füßen auf dem Boden kündigt ihn an. Auch Erwin (Lionheart), wie immer unterwegs mit Hut, zusammen mit Julia überholen mich nur 5 Mal. Das motviert mich durchzuhalten. Bisher habe ich keine Probleme bei den Treppen oder Anzeichen von Erschöpfung wie letztes Jahr.

Irgendwann will ich es doch wissen und konzentriere mich auf die Leinwand. Mein Gefühl sagt mir: 24 Runden, da bist du irgendwo. Die Zeitmessung weiß es besser, bereits 28 Runden hab ich hinter mir und dies nach nicht ganz zwei Stunden. Irgendwie eine Art Erleichterung. Zudem wird es in den Gängen langsam luftiger. Klar, nach und nach erreichen die Halbmarathonis ihr Ziel (27 Runden haben die zu bewältigen).

Leider ist es nach der Info über die Runden mit meiner inneren Ruhe und der Trance des leichten Laufens vorbei. Der Kopf drängt sich in den Vordergrund und die Laufmuskulatur meldet sich auch mit Bedarf nach Entlastung. Der Kopf schiebt das aber immer beiseite.

Ich versuche mich ein wenig abzulenken. Zum Beispiel überlege ich, ob das Wischteam, welches den Bereich nach der Getränkeversorgung nach besten Kräften trocken hält (man verschüttet doch immer etwas, wenn man im Laufen trinkt), nach gewischten Kilometern Flur bezahlt wird? Oder vielleicht nach ausgegebenen Bechern. Zudem analysiere ich wie Läufer die Treppen bezwingen. Es gibt die unterschiedlichsten Varianten. Beim Abwärts gibt es die Vollauftreter, die jede Stufe vollständig mitnehmen. Die Häufigkeit dieser Gangart nimmt im Laufe des Marathons zu. Dann gibt es die sportlichen Hüpfer, die soviel Schwung wie möglich mitnehmen und die letzten beiden Stufen in einem Schritt nehmen. Dabei wird der Haltegriff des Geländers effektiv genutzt. Mit der schwach ausgeprägten Läufer-Armmuskulatur halten sie sich fest und bezwingen die Haarnadelkurve. Der dritte Typ ist meiner: Ich tippe wie viele andere die Stufenkanten nur mit dem Ballen an. Es ergibt sich eine Art Watscheln oder Tippeln, man rutscht sozusagen kontrolliert die Treppen hinunter. Wohl eine Angewohnheit aus meiner Studienzeit in Mannheim, in der ich regelmäßig die Treppe als Alternative zum Aufzug in den 10 Stock genommen habe und natürlich auch wieder runter.

Beim Treppaufsteigen gibt es auch unterschiedliche Techniken, die nicht immer auf Gegenliebe stoßen. Aber jede Gangart wird toleriert. Sofern es möglich ist nehme ich den Schwung des Laufens mit, das bringt mich schon mal die ersten drei Stufen nach oben. Danach versuche ich im Fluss zu bleiben, wenn es geht und mich nicht der gehende oder kletternde Laufstil des Vordermanns zur gleichen Gangart zwingt. Ich stelle fest: Das Gehen im Treppauf entspannt zwar, doch um so heftiger sind die Hemmnisse beim Wiederanlaufen oben. Ich beiße mich jedesmal durch, damit ich nur nicht ins Gehen verfalle.

Eine weitere Veränderung bringt mich auf neue Gedanken und eine Zusatzbeschäftigung. Mit dem Ende des Halbmarathons haben die Läufer der Down-Syndrom-Staffel begonnen den Marathon als Team zu laufen. Je ein Coach begleitet die jungen Läufer und motiviert diese. Teilweise ist das gar nicht nötig, sie rennen den Coaches davon und müssen wieder gebremst werden. Auch vor den Treppenhäusern wird dabei nicht Halt gemacht, obwohl das so abgestimmt ist. Dennoch ernten diese Teilnehmer viel Respekt. Viele nicht verbissene Läufer wie ich applaudieren beim Überholen und helfen bei der Motivation.

Mittlerweile liegt Runde 40 hinter mir. Seit 5 Runden habe ich doch angefangen zu zählen, rückwärts versteht sich. Ich verfluche mich dafür, denn einmal angefangen hört man damit nicht mehr auf. Und die Konzentration aufs Laufen und das Genießen ist dahin. So artet es wieder in den Kampf "Head over feet" (ein Song von Alanis Morisette) aus, der Kopf überrdet den Unterbau jede Runde. Man motiviert sich, dass es ja nicht mehr so weit ist. Noch 12 Runden? Im Kopf beginnt sich das Bild einer rückwärtslaufenden Analog-Uhr zu bilden. Mit jeder Runde schiebe ich den Zeiger gedanklich eine zwölftel Umdrehung nach hinten. Ziel sind immer die markanten Punkte 9, 6 und 3 Runden die noch vor mir liegen. Wichtig wird dabei vor allem das Treppenhaus aufwärts. Mittlerweile fordert das nämlich seinen Tribut.

In Runde 10 vor dem Ende machen sich leichte Krampfansätze in der Kniekehle bemerkbar. Ich laufe die Runde jetzt bewusst mit streckenden Schritten und kippe zwei Becher Iso in mich hinein. Der große Krampf ist somit abgewendet.

Noch 5 Runden, nicht mehr ganz 4km. Ich überlege wo ich wohl auf meinen Heimatstrecken gerade wäre, und zähle laut vor jedem Anstieg: "Noch 5 Mal da hoch und wenn du oben bist ist es schon wieder eines weniger".

Noch 2 Anstiege: Ich will den mit 71 Jahren ältesten Teilnehmer den Vortritt am Treppenhaus lassen. Aber der winkt ab: "Du hast doch noch mehr Energie, und wahrscheinlich weniger Runden vor dir". Genau genommen ist es noch eine, also nur noch einmal das Treppenhaus. Er hat noch 10 Runden vor sich. Ich bin auf der letzten Runde versucht Gas zu geben, motiviert durch die Rundenanzeige aus dem Fanblock und kräfige Anfeuerungrufen aus dem Publikum. Dennoch lasse ich mich nicht gehen. Ich weiß wie hart sich der letzte Anstieg anfühlen kann, wenn man seine Reserven verspielt hat. Auf der unteren Ebene fehlt mir irgendwie die Lust und die Kraft. Mein angepeiltes Ziel von 4 Stunden liegt sowieso schon 10 Minuten in der Vergangenheit. Vor knapp einer Stunde ist der Sieger durchs Ziel gelaufen. Und der heißt diesmal nicht Hannes Schmidt, soviel habe ich mitbekommen. Die letzte Treppe und freie Bahn. Ich nehme sie mit Schwung und beiße beim Wiederanlaufen die Zähne aufeinander. Zwei Läufer in Sichtweite. Einen will ich noch überholen. Das gelingt mir auch. Den Gang vor, um die Kurve, durch die Zeitmessung und endlich ist es geschafft!

So richtig glauben will ich es noch nicht, aber die Zeitmessung gibt mir die Bestätigung per Handzeichen: "Schluss, aus, fertig". Ich gehe noch ein wenig, meine Freundin kommt mir entgegen, schon ein tolles Gefühl, auch wenn der Körper sich jetzt rächt. Kurz nach der Entlastung melden sich alle unterdrückten Schmerzen, insbesondere die Oberschenkel geben mir klipp und klar zu verstehen, dass es der Treppen zu viele waren.

Nach etwas Ruhepause auf dem Fußboden gehe ich zur Medallienausgabe, hole mein T-Shirt und dann... geht es mal wieder ein Treppenhaus runter. Diesmal zu den Duschen. Und es melden sich noch mehr Muskeln. Irgendwie tut grad alles weh und mir ist in der Zugluft des Treppenhauses doch frisch. Dennoch muss ich mich sputen, denn meine Freundin muss zum Bahnhof, sonst verpasst sie ihre Mitfahrgelegenheit. Also nur ein kurzer Imbiss aus ISO, Wasser und Tee und ein paar Riegel. Mein Gang zur U-Bahn ist schon fast wieder normal, auch wenn ich steif laufe und die Treppen eine echte Herausforderung sind. Aber ich habe meinen Stolz: Fahrstuhl kommt nicht in die Tüte!

Auf die Weise verpasse ich leider Helgas Zieleinlauf. Als ich wieder zurück in die LGA komme, ist sie schon geduscht und das Team sucht mich. Zum Carbo-Loading geht es nach Führt etwas essen, bevor ich mich auf den Heimweg mit dem Auto mache. Auf der Fahrt habe ich schon wieder Hunger und vertilge noch Gebäck vom Frühstück. Auch als ich daheim in Mannheim ankomme habe ich Hunger. Also kochen, an Schlafen ist trotz Erschöpfung nicht zu denken. Mein Körper meint wohl, es geht jetzt noch 60km so weiter, wie in Ulm beim 100er.

Drei Tage später: Heute ist Mittwoch, die erste Trainingseinheit mit 10km habe ich gestern absolviert. Ebene Strecken gehen schon wieder. Nur wenns abwärts geht wird es schmerzhaft. Treppenlaufen bergauf ist auch schon wieder möglich, bergab wird es auch von Tag zu Tag besser.

Merke: Nächstes Jahr noch intensiver das Treppenlaufen trainieren. Dabei sein werde ich wohl wieder. Vielleicht einfach weil der Lauf eben nicht ganz normal ist.

Gruß,

Kai

Weiterführender Link zum Thema: Bildbericht von Erwin Lionheart zu diesem Marathon
 
[team/fuss.htm]