Erstmals
verdecken Wüsten-Gamaschen meine deutlich zu großen Schuhe, in denen
sich die bis Morgen sicher heiß gelaufenen Füße notfalls immer noch
ausdehnen dürfen. Und mein Laufrucksack ist nicht nur von der
Pflichtausrüstung prall gefüllt. Denn neben den regelmäßigen
Wasserrationen ist unterwegs wohl nur noch mit schönen Worten zu
rechnen.
Die Sonne streicht
flach über den Sand und verspricht einen milden Tag. Doch wie zur
Wachsamkeit mahnend, erhebt sich plötzlich der rostige Rumpf des
spanischen Frachters "Cabo de Santa Maria" aus dem Atlantik, dem 1968
das Wetter zum Verhängnis wurde. Am Strand davor erwarten mich meine
Lauffreunde Silvio Schweinsberg, Markus Süße und Julian Popp. Markus
lotst uns als erfahrener "Wüstenfuchs" über jene Strecke, die für ihn
läuferisch in den letzten Jahren zu einer Art zweiten Heimat wurde.
Sandhügel führen am türkisblauen Meer vorbei und tragen einen Teppich
aus Sukkulenten. Riesige Schildkröten haben hier ihre letzte Ruhestätte
gefunden. Am Checkpoint 2 nehmen wir unter einem Pavillon auf der
einladenden Couch Platz. Der Wunsch, länger zu verweilen, wirkt auf die
drängelnden Begleiter genauso lächerlich wie die in der beißenden Hitze
stehende Weihnachtsbaumkopie, die voller Freude von Einheimischen aus
langen hellbraunen Holzstücken zusammengesteckt wird.
Aber zum Glück
herrscht ja gerade Winter auf Cap Verde. Mit mehr als 35°C ist also kaum
zu rechnen. Behutsam nehme ich mir den Kalksteinfelsen vor, auf dessen
Spitze meine Kameraden nur noch als Miniaturen zu erkennen sind.
Schlagartig bin ich allein in Afrika und erschrecke vor einer Welt, die
nicht die meine ist. In Bofareira spielen Kinder zwischen bunten,
heruntergekommenen Häusern, die Schule ist nur durch Weihnachtsmotive an
den Fenstern zu erkennen. Es scheint als hätte ich eine imaginäre
Zeitgrenze überschritten, die mich 100 Jahre in die Vergangenheit
katapultiert hat. Rote Markierungsfähnchen weisen in eine Steppe mit
hinterlistigen Dornensträuchern und durch ein ausgetrocknetes Flussbett.
Schon spüre ich Samt unter den Füßen und begreife, warum diese Insel
auch "Sahara im Atlantik" genannt wird.
Dünen schwingen sich
formvollendet in den Himmel - und ich dackele wie ein Welpe über den
heißen Sand. Als Suchender entdecke ich zwei Palmen. Anmutig schreitet
mir von dort eine dunkelhaarige Schönheit entgegen.
Bin ich das Opfer
einer Fata Morgana? Nein! Der nächste Checkpoint ist erreicht. Erquickt
setzte ich die Reise fort und bezwinge die letzte Steigung. Über die
Dörfer Estancia de Baixo und Rabil führt ein Pfad am Flughafen vorbei
zur "Alten Ziegelei", deren Schornstein als das Wahrzeichen Boa Vistas
schon aus weiter Ferne grüßt. Erstaunt erfahre ich, dass Silvio auf
dieser Düne 20 Minuten auf mich wartete, aber von Marco Zaffarani, dem
vermeintlich harten italienischen Orga-Chef, weitergeschickt wurde. Am
weißen Strand der Praia da Chave begutachten mich die Badenden etwas
verdutzt. Die Route führt wirklich an unserem Hotel vorbei! Der
Security-Mann will mich in meiner seltsam anmutenden Kluft abwimmeln,
doch ich beharre auf meinem "All Inclusive"-Armband und ernte
unvermittelt ein Lächeln. Genussvoll setzte ich mich mit Cola, Fanta und
Pommes an die Bar, wohl wissend, dass ich von diesem kurzen Augenblick
mental bis zur Dunkelheit zehren werde.
Der Strand ist
momentan menschenleer und gehört mir für endlos scheinende Kilometer.
Dennoch fürchte ich mich nicht vor einem der berüchtigten Überfälle. Wer
rechnet denn jetzt noch mit dem Schlussläufer? Immer wieder springe ich
vor dem Spielzeug des Windes, den heranbrausenden Wellen, zur Seite.
Die Dunkelheit naht
und ich ziehe die Stirnlampe über. Lichtscheue Elemente gleiten
gespenstisch schnell über den Boden. Meine Leuchte rotiert wie ein Radar
und ich entdecke die Räuber der Nacht: Geisterkrabben! Gebannt starre
ich auf ein orangefarbenes Signallicht.
Das ist mein
Zeichen! Ich laufe und laufe bis ich an der Praia de Santa Monica stehe
und sich das Signal als Rundumleuchte auf dem Autodach des
Checkpoint-Jeeps enttarnt. Schließlich verlasse ich das Areal der
"verlassenen Häuser". Sofort leisten die Stöcke Höchstarbeit, um mich
vor einem Sturz zu bewahren. Ich schlittere über hunderte Steine und
meine Füße rutschen in den Schuhen wie auf einer Bobbahn hin und her.
Was
für ein Trail!
Überraschend klingelt
das Funktelefon. Meine drei Leidensbrüder warten bei
Kilometer 71! Beflügelt erhöhe
ich die Frequenz und erreiche vor dem Zeitlimit nach 15 Stunden und 19
Minuten die Salzlagunen bei Curral Velho, in denen einstmals das "weiße
Gold" abgebaut wurde.
Der Schreck kriecht
mir ins Gesicht: Die Saline wirkt wie ausgestorben. Die Mitstreiter
haben den Ultra hier mit Wertung beendet und sind bereits auf der
motorisierten Rückreise. Ungläubig setzte ich den Weg fort, den ich
jetzt auch für meine Freunde beschreite. Aber die Füße schlagen Alarm.
Vorsichtig lüfte ich am Checkpoint 8 die Strümpfe, gebe mich
hartgesotten und in die eigene medizinische Obhut. Ein kleiner Schnitt
öffnet eine Blase, gefolgt von ein paar Tropfen Antiseptikum und einem
spitzen Schrei - schon geht es bergauf hinaus. Trotzdem läuft sich von
nun an jeder Meter wie auf Disteln. Immerhin bleibt genügend Zeit, um
mich neu kennen zu lernen. Hat der Vollmond seinen Schleier abgeworfen
und trägt auf einmal ein Gesicht? Mehrfach fallen mir die Augen zu, doch
ich klammere mich an den Lichtstrahl des Leuchtturms auf dem Morro
Negro.
Bis der Wind
aufhört, mich auszupfeifen. Marco bereitet mir ein Lager am CP 9. Ich
krieche in das dünnwandige Zelt und liege sofort an meinem inneren
Strand. Frisch wiederbelebt schaue ich auf die Uhr: 30 Minuten Schlaf
müssen reichen.
Aufbruch! Sogleich
schlurfe ich der Morgendämmerung entgegen. Am Dorfende von Cabeça dos
Tarafes umzingelt mich abrupt ein bellendes Rudel junger Hunde. Wäre ich
eine Dogge, würde ich einfach die Zähne fletschen. So aber schreie ich
meine Wut aus den Füßen in die ausgestreckten Arme, bis die fünfköpfige
Bande flieht. In Fundo das Figueiras wartet Marco schon, um mich mit
Wasser und Cola zu umsorgen. Exakt 25 Stunden liegen jetzt hinter und
nur noch 50 Kilometer vor mir. Die Landstraße aus rotem Sand und Geröll
trägt mich an einer Oase aus Palmen, Windrädern, verfallenen Häusern und
dem schokobraunen Berg Monte Calhau vorbei. Ein vorübereilendes
Lieferfahrzeug schleudert Staub auf meine verdreckten Schuhe, aus dem
geöffneten Fenster hallen aufmunternde Rufe.
In der Bucht von das
Gatas tanke ich kurz auf und schleppe mich weiter Richtung Küste. Eine
blassgesichtige Krabbe liegt tot am Meer - und sieht so aus, wie ich
mich gerade fühle. Selbst wenn die begrünten Sandhügel wie eine Frau
erobert werden wollen; ich hangele mich nur noch von Fähnchen zu
Fähnchen. Die Wärme brennt jeden Gedanken nieder. Sind das die Häuser
von Espingueira? Klatschend empfängt mich eine Delegation von Helfern
unter dem vertrauten Pavillon von CP 2, der jetzt als Checkpoint 12
dient. Gute Nachrichten: Unsere Stephanie Lieb hat als dritte Frau -
gemeinsam mit dem sympathischen Österreicher Gerhard Lusskandl nach 26
Stunden und 33 Minuten das Ziel erreicht! Mit Hoffnung gesalbt erklimme
ich den nächsten Berg. Am Straßenrand liegen zwei verlassene Gamaschen.
Die Wüste hat ihre Macht verloren. Sofort wandern die Schlaglöcher vom
Pflaster in meine Fußsohlen. Es wird ein zweites Mal Nacht. Grillen
zirpen. Im Schein der Lampe stehen Erwachsene und Kinder am Straßenrand
Spalier. Erst als ich laut grüße, verwandeln sie sich blitzschnell in
Sträucher. Meine Gedanken kreisen. Scheinbar sind nur die Sterne über
mir echt!
Ich schließe die
Augen und schiebe mich mit den Stöcken über den Boden. In der Finsternis
zerrinnen Sekunden wie Minuten, Minuten wie Stunden. Habe ich mich im
Halbschlaf verlaufen? Ich beschimpfe die Dunkelheit und trippele
ernüchtert bergan. Unerwartet bin ich in Rabil. Nur noch acht Kilometer!
Motiviert trabe ich weiter, biege falsch ab, kehre um und torkele am
Rande des Wahnsinns. Prompt entdecke ich eine Rundumleuchte: Marco
erweist sich in seinem Jeep erneut als Seelenretter. Auf dem
Seitenstreifen der Hauptstraße folge ich dem orangenen Licht - so
demütig wie ein Christ dem Morgenstern. Doch ein scheuer Blick auf den
Zeitmesser belebt meine müden Beine. Kurzatmig überhole ich den
Geländewagen, sprinte durch Sal Rei und überquere nach 39 Stunden und 53
Minuten die Linie.
In diesem Moment
verweben sich gestern, heute und morgen. Die Schmerzen haben ein Ende
und ich beschließe glücklich ein Abenteuer, das ich wohl nie mehr
vergessen werde.
Die Bilder
Die 32 Starter stehen bereit |
Zwei Minuten nach 7 Uhr folge ich den Startern bedächtig
|
Achtung: Kleine Schildrötenkinder |
Mit Gamaschen durch den Sand... |
...am Strand vor dem rostigen Wrack |
Das Innere der Insel |
Am Meer entlang |
Normaler Arbeitstag für einen Handwerker |
Kinder spielen und beobachten uns "Außerirdische" |
Sehr unwegsam und pralle Hitze |
Schildkrötenskelett |
Am Dünenrand, der leicht abbröckelt |
Die Düne runter |
Sehr unwegsam und hart |
Im Ziel nach
fast 40 Std: Es verweben sich gestern, heute und morgen. Die
Schmerzen haben ein Ende |
Das deutsche Team |
Euer Mirko (hier der
Bericht aus der
RUNNING 03/2012 )
Infos:
Boa Vista Ultramarathon
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