Der Winter hat lange gedauert, die Kälte zog sich
weit über Ostern hinaus. Meine kleinen Fluchten nach Wärme in den Süden
endeten vor Lucca. Und bei Viareggio am Meer fand ich endlich ein wenig
von der maritimen Luftmilde, die eine ungefähre Ahnung von einem langen
hellen Sommer zuhause zu versprechen schien. Der Sommer 2013 kam spät im
Jahr zur Welt und blieb lange Wochen im Wärmewachstum bescheiden und
ziemlich verzögert. Dann trafen Toni, Rainer und ich eine Verabredung.
Die schon lange geplante Hochtour über die 12 Tausender Route von
Bad Kötzting zum Arberschutzhaus, der 31 km lange, immer auf der
schmalen Kante des Gebirgsstocks hinlaufende Trail müsste endlich an
diesem Wochenende in Angriff genommen werden. Jedoch begann das Gift des
Zweifels gleich wirksam die Diskussion zu beeinflussen, reine
Kopfgedanken lähmten. Der schwankende Grund, auf dem man immer steht,
wenn Entscheidungen nicht alsbald in eine ausführende Tat befreit
werden, irritiert. Der Kopf tut einem weh von all den Gegenargumenten,
die jetzt aufkommen: „Es ist jetzt viel zu heiß, das wird ein
regelrechtes Eseltreiben“, meint Toni, „die Auf- und Anstiege darfst du
auch nicht vergessen“. Dann könnte man auch verdursten. Nur in Eck
gibt’s ein Wirtshaus, dann erst wieder die Chamer Hütte, die jedoch zu
einer unbarmherzigen Zeit, um 17:00 Uhr die Türen zusperrt. Dann bedenkt
doch die Schattenlosigkeit beim Aufstieg zum Enzian, ach und dann die
Kondition ist wieder mal lausig, 9 Stunden, vielleicht 10? Dem
Entscheidungslosen hilft nur der Sprung in die Tat.
Mit dem Zug fährt es sich in aller
Hergottsfrüh von Regensburg aus bequem in den Bayerischen Wald, Ausstieg
Bad Kötzting. Von dort sind es 580 hm bis zum aufragenden
Kreuzfelsen (1.000 m), die wir auf einer schmalen, 4 km langen
Teerstraße kurvenreich aufsteigend durch den bewaldeten Westhang des
Kaitersberges zurücklegen müssten. Aber wir widerstanden nicht dem
Angebot, uns bis auf 780 m Höhe zum Wanderparklatz von Reitenberg hinauf
zu fahren. Schön liegt alles an seinem sonnenbestrahlten Platz in der
sanften Tiefe, Waldhügel an Waldhügel und auf einem jenseits der
Ansiedlung die weiße Wallfahrtskirche Weißenregen, von wo aus man auf
einen Wanderweg bis nach Wörth hinunterkommt. Vor 3 Wochen sind Toni und
ich von dort bereits fast bis zur Donau gelaufen. Sanfte Kühle weht aus
den eingeschnittenen Waldwegen und wir kommen freundlich gestimmt auf
wurzeligen Pfaden, über Granitfelsen steigend, an mächtigen hohen
Felswänden aufschauend zum Mittagstein (1.034 m) hinauf. Gesichert an
Drahtseilen an besonders ausgesetzten Stellen rasten wir erst mal auf
dieser wunderbaren Aussichtskanzel hoch über dem Tal des Weißen Regen,
und schauen lange hinüber zum Lamer Winkel und suchen die blaue Linie
des künischen Grenzgebirges.
Die Sicht ist gut und reicht bis zum
Arber, der genau in südöstlicher Richtung in Abfolge höhersteigender
Bergkuppen als fernes Tagesziel mit dem weißen Funkdom auf seinem Gipfel
grüßt. Das Panorama ist immer wieder sensationell, denn der gesamte
vordere Bayerische Wald liegt in Sichtweite. Die Berglinie geht von St.
Engelmar bis zum Hirschenstein in südwestlicher Richtung, das Zellertal
mit dem Kötztinger Becken direkt unter uns im grün gesprenkelten
Sommerkleid. Gegen Osten schwingt sich der Hohe Bogen heran. Heute haben
wir keine Eile, der Tag gehört uns, Freude fließt als euphorischer Stoff
durch unser Blut. Über das Steinbühler Gesenke geht es durch
Fichtenhochwald und auf humusreicheren Waldboden zur Kötztinger Hütte.
Auf deren Terrasse treffen wir um 10:00 Uhr morgens schon viele vor uns
aufgebrochene Wanderer, die hier sitzenbleiben. Das verstehen wir, denn
die Kötztinger Hütte wäre ein Ort zum wunderbaren Dableiben. Nach einem
ernsthaften Frühstück spornt uns Rainer an, endlich weiter zu Wollen.
Esel meint er, müssten bewegt werden, um Zufriedenheit zu erlangen.
Im
Unterschied zum Läufer richtet sich der Wanderer auf ein höheres Niveau
an kulinarischem Support ein. Es darf alles ein wenig entspannter
zugehen wie bei einem „Hirschenrennen“. Wir klettern umständlich durch
den Felsspalt der Rauchröhren hinunter, an deren hohen Wänden sich
tschechische Kletterer abseilen. Wir finden den Pfad wieder am Grat
entlang, Felsblöcke umsteigend im schwierigen Wegverlauf und kommen
wieder ins Grasfreie hinaus, bald leicht ansteigend zum Großen
Riedelstein (1.132 m). Erfrischend verfängt sich Sommerwind auf unserer
erhitzten Haut.
Am
Waldschmitt-Denkmal vorbei (wir scheuen diesen extra Aufstieg, auch der
Dichter zieht uns nicht hinauf auf den Gipfel) rennen wir halb auf
breiten Forstwegen hinunter nach Eck, der Passhöhe auf 843 m, über den
die einzige Straße zwischen dem Zellertal und dem Lamer Winkel
schneidet. Ein Sehnsuchtsort mit einer Rastmöglichkeit im schattigen
Biergarten des Berggasthofes, wo wir das Paradies entdeckt zu haben
glauben. Und erst einmal beschließen wir nicht weiter zu gehen, sondern
ein ausgiebiges bayerisches Mittagsmahl mit den dazugehörigen
Genussgetränken zu bestellen. Ach, sagt Freunde, ist das Leben nicht
schön! Und schaut doch, wie wenig brauchen wir, dass uns das Leben so
glücklich leicht fällt. Das bisschen Bewegung und Anstrengung, die frohe
Gemeinschaft unter uns, und dieser helle heitere Tag mit seinen
grandiosen Waldsommergerüchen. Das ist eine Arznei, die es nirgends auf
Rezept gibt. Laufe oder Gehe, Mensch, und gesunde.
Nach
Überquerung der Passstraße steigt der Wald zuerst stetig steigend leicht
hinauf. Die Wege werden wieder zu Pfaden, schlängeln sich an Felsen
herum, die wie absichtlich hingeworfen den Weg blockieren. Das
entströmende Harz der Fichten verdichtet die Luft. Im wechselnden Gehen
von Schatten und Licht, das mit einer ungewöhnlichen Helligkeit heftig
die Augen blendet, finden wir den Weg trotzdem unbeeindruckt. Um uns in
der hohen Luft tobt ein monotones Gesumm vom konzertanten Flügelschlagen
milliardenfach im Sommerlicht tanzender, aber meist unsichtbarer
Kleinstgeschöpfe. Dann sind wir am Mühlriegel (1.080 m) und merken den
Gipfelhalt kaum. Eine freie Sicht aus dem immergrünen Baumgeflecht hinab
ins Tal gibt es genussvoll zu bewundern. Und ein Blick voraus auf den
Arbergipfel entzückt uns gerade nicht, da wir übereinkünftig
feststellen, dass die Entfernung gemessen am Maß unserer Anstrengung
noch viel zu weit ist. Deswegen entscheiden wir uns nicht für den
Abstieg nach Schareben (wieder ein Wirtshaus), sondern setzen unseren
Weg über den beschwerlichen Kammweg fort. Der Wald hat uns nun ganz und
gar umfangen, seit Stunden gehen wir so dahin. Die Gespräche sind
verstummt. Gipfel wechselt auf Gipfel, Sattel auf Sattel, immer voran
auf Freiflächen, wo uns die Sonne quält. Wieder niedriges Birkengewächs,
die Höhenmeter summieren sich angestrengt. Dass wir auch Laufen könnten?
Seltsam, dieser Gedanke kam nicht auf. Esel laufen nur getrieben. Der
Ödriegel (1.156 m) wird uns auch nicht besonders bewusst, wie wir ihn so
abseits passieren. Erst am Waldwiesenmarterl mit einer einfachen, roh
gezimmerten nach vorne offenen Hütte, halten wir wieder an. Ein
besinnlicher Ort. Wer von uns als erster das Bedürfnis verspüre, als
Einsiedler sein restliches Leben hier zu verbringen, hätte mit diesem
menschenfernen Platz sicher eine gute Wahl getroffen.
Nur
einsam auf einer sonnengefluteten Lichtung, gerade im Aufstieg, auf
rostfarbenen federnden Tannennadelboden, begegnen wir einem Greis, weit
in seinen 80ern. Er ist mit seinem Sohn, der weitab Holzfällarbeiten
ausführt, hier hochgekommen. Tiefste Trauer, aus der die Zeit das
Unfassbare des Verlustes schon entwrungen hat, begleitet den Tonfall der
Worte, die uns vom Sterben seiner Frau erzählen. Von der Einsamkeit, die
man spürt, wenn man nur alleine noch „übrig“ ist in einer so unendlich
schönen Welt. Dabei führt er melancholisch eine leichte kreisende
Bewegung seiner Hände aus. Und doch mag er keinen widerhakenden Gefallen
am Leben mehr finden, weil die verlorene Zweisamkeit eine unbedingte
Verlängerung des eigenen Lebens, das nur noch Älterwerden sei, ziemlich
unbedeutend mache. Wir verlassen den alten Waldler mit seiner
sinnierenden Lebensphilosophie, die traurig genug, uns über alle
irdische Vergänglichkeit hinweg, ein Beispiel für Leidensstärke und
Liebesverbundenheit gegeben hat.
Wir treten in Flächen hinaus, in denen entastete Baumpfähle silbern
glitzern. In alle Richtungen schief, wie der Wind sie wechselnd,
umgedrückt hat, stehen sie als trauriger Rest eines ehemalig herrlichen
Hochwaldes auf den Schachten. Doch die Natur wartet nicht lange, sich
wieder zu beleben. Vogelbeeren, andere Sträucher, Birkenschösslinge und
junge Fichten bewachsen schon wieder in verstreuten Kolonien die
aufgerissenen Hangflächen. Als wir den Enzian hochkeuchen, Esel hinter
Esel, verunsichert uns ein hoher Ton in der Luft. Erstaunt hören wir, ob
wir dem summenden Pfeifen nicht eine geheime Botschaft entlocken
könnten. Spricht das Universum zu uns? Sind Engel über uns, die sich
hier heroben dem Wanderer offenbaren? Sind es vielleicht doch nur
Innenohrgeräusche? Es ist der Wind, der alte Geiger, der mit den Saiten
der dürren, abgestorbenen Ästen eine einfache Weise spielt, zum Träumen
ist’s.
Durst
tritt auf, wir beschleunigen, um noch vor 17:00 Uhr zur Chamer Hütte zu
kommen. Dabei verlaufen wir Esel uns auch noch, steigen zum kleinen
Arbersee auf einer breiten Forststraße hinunter. Unsere Müdigkeit foppt
uns auf den scheinbar leichteren Weg. An der fichtengrünen Flanke des
Kleinen Arbers kehren wir um, treten wieder in den Wanderweg ein. Dessen
Wegmarkierung hätten Blinde sehen müssen. Wir quälen uns sehr steil auf
den Gipfel des Kleinen Arbers, der 11. Tausender. Toni eilt uns voraus,
eilig Bestellungen stimmungsverstärkender Getränke aufgebend. Der Weg
vom Gipfel auf das Arberplateau hinunter führt vorsichtig Schritt für
Schritt setzend über einen vom Sturm schwer verwüsteten Steilhang. Der
Fichtenhochwald ist tot, die Bäume liegen wie gefallene Helden mit
großen Fußwunden wirr durcheinander. Der Weg mäandert um die gekippten
Baumwurzelteller und endlich 5 vor 5 stehen wir auf der Holzveranda der
Chamer Hütte, die alsgleich mit wenig Bedauern von innen verschlossen
wird. Jetzt sitzen wir da, rechtschaffen müde mit dem Blick zum
imposanten Gipfelaufbau des Arbers. In 1 Stunde sind wir am Ziel. Der
Wald wurde kastriert, überbreite rötlich-weiße Fahrwege schneiden den
Berg umwindend hinauf. Wir werden diese Nacht im Arberschutzhaus
verbringen, hotelmäßig versorgt, um morgen neuerlich eine schmerzlose,
aber umso wundersamere Mutation am eigenen Leib spüren zu können. Das
ist die Wandlung vom alten Esel zum juvenilen Hirschen. Ach wie wir da
am Sonntagvormittag vom Arber zum Bahnhof nach Bischofsmais
hinunter springen werden…
Ein paar
Bilder
Die 12 Tausender-Gipfel |
Gipfelkreuz... |
...Innehalten und den Ausblick genießen |
Auch ein Gipfelkreuz |
Kreuzfelsen: Zum Gedenken der Erbauer der Bergkreuze |
Kletterer |
Da drüben ist der nächste Gipfel, da müssmer hin |
Ödriegel (1.116m) |
Felsen und Wald, das lieben wir |
Wieder eine Rast, schöne kleine Hütte |
Der Weg ist super markiert |
Nächster Tausender |
Trail-Trail-Trail, geil-geil-geil |
Im Anblick der bunten Natur kreiseln meine Gedanken |
Ist schon auch etwas anstrengend... |
...da tut die Rast an der Berghütte gut |
Dampfbier |
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So, weiter geht's... |
...wieder in die Einsamkeit und Stille der Natur |
Am kleinen Wasserfall... |
...machen wir ein Päuschen... |
...richtig gut |
Der "Laufphilosoph" schaut seine Gedanken an |
Läufer und Wanderer |
Nach getaner Tour ist gut rasten |
Der
Höhenweg kann vom geübten Wanderer oder Läufer gut an 1 Tag begangen
werden. In der touristisch temperierten Beschreibung wird eine
Zwischenstation mit Übernachtung in Eck empfohlen. Die Anfahrten können
mit dem Zug und öffentlichen Verkehrsmittel gemacht werden. Es empfiehlt
sich die Strecke nicht alleine zu gehen. Man ist auf dem Kammweg wohl
über Stunden sehr alleine unterwegs. Entsprechend ist es sinnvoll, sich
auf wechselndes Wetter einzustellen und genügend Flüssigkeit
mitzutragen. Der Weg in die Täler wäre recht weit und vom Wegverlauf
nicht erkundet, träte die Situation einer Wegverkürzung oder eines
unvorhergesehenen Wanderabbruchs ein.
Euer Gottfried
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