Mit dem großen
Berlin-Marathon hat dieses Ereignis sehr wenig gemeinsam. Die
Maximalgrenze von 200 Teilnehmern hält es im familiären Rahmen. Die
Strecke ist etwas 43km, der Kurs führt durch den Nordwesten. Alles
findet nicht in Berlins Mitte statt und legt nicht die halbe Innenstadt
lahm. Klar hingewiesen wird, dass bei den wenigen Straßenquerungen der
Autoverkehr Vorrang hat, und die Fußgängerampeln nur bei Grün zu
passieren sind. Zudem ist es keine kommerzielle Veranstaltung, sondern
ein Unterstützungslauf für die
Kindertrauergruppe
des Johannes-Hospizes in Berlin-Spandau. Das Mitführen von Stirnlampen
ist vorgeschrieben, da die Dunkelheit hereinbricht
("Vollmond-Marathon"). Wie wertvoll doch dieses Utensil sein wird!
Die Tage vorher verbrachte ich
in der odermärkischen Kreisstadt
Seelow . In den Fokus
der Weltöffentlichkeit geriet diese unweit der polnischen Grenze
gelegene Stadt vor 69 Jahren, als vom 16.-19.04.1945 die Schlacht um die
Seelower Höhen tobte. Nach einem Morgenlauf besuchte ich die
Gräberfelder und das Ehrenmal mit Museum. Der Boden ist noch immer
munitionsbelastet. Wäre mir das vorher bewusst gewesen, hätte ich, als
ich die Gegend läuferisch erkundete, die breiten Wege besser nicht
verlassen und die schmalen Pfade kreuz und quer durch Wald und Flur
vermieden.
Am Freitag, dem Vortag des
Marathonlaufs, verlagern wir unseren Aufenthaltsort in den gut 70 km
entfernten Ostberliner Stadtteil Hohenschönhausen. Samstag zeigt sich
das Wetter nach hochsommerlichen Temperaturen gemäßigter: Sonnig, leicht
bewölkt und 25°C. Mein Ziel ist das Sport Centrum Siemensstadt im
Westberliner Bezirk Spandau (U-Bahnhof Rohrdamm). Plötzlich wandelt sich
das Wetter gehörig, heftiger Regen begleitet von starkem Wind. Trotzdem
laufe ich zum Waldstadion, wo der Niederschlag nachlässt.
Im Foyer der Sportanlage werden
wir Läufer herzlich willkommen geheißen von Betreuern und Kindern der
Hospiztrauergruppe mit Halb- und Vollwaisen. Wir ziehen uns in den
Katakomben um und schon lugt die wärmende Sonne durch die Wolken. Die
Hoffnung steigt, dass im Verlauf des Abends die Bewölkung verschwindet,
um freie Sicht auf den zu Vollmond zuzulassen.
Frank-Ulrich Etzrodt, von
Freunden liebevoll "Etze" genannt, ist begeisterter Ultraläufer und
Initiator des 1. Berliner Vollmond-Marathons. Er begrüßt uns als
Sprecher im Stadion und eine Blaskapelle sorgt für heitere Stimmung.
Etwas getrübt wird diese durch die im Minutentakt über uns
hinwegdonnernden Flugzeuge: Der Flughafen Tegel nur 2km entfernt. Der
bekannteste der 130 Starter, unter denen ich nicht der einzige Berlin-Urlauber
bin, ist der Gewinner des 1. Berlin-Marathons 1974, Günter Hallas.
Damals bewegte sich die Zahl der Teilnehmern mit 300 im äußerst
bescheidenen Rahmen, und die Strecke verlief durch den Grunewald.
Begrüßt wird die Frau mit den weltweit meisten Marathons, Sigrid
Eichner (1.833ter heute) und überraschend der Landrat des
Landkreises Oberhavel, Karl-Heinz Schröter. Der Kurs führt von km 21 bis
km 30 durch sein Revier Berlin-Reinickendorf nach Brandenburg. Einen
symbolischen Riesenscheck über € 1.000 Spenden- und Startgelder
überreicht Etze einem der Kinder der Trauergruppe, das sich mit seiner
Betreuerin sehr darüber freut.
Bevor wir ins Rennen geschickt
werden, bekommen wir noch einige Hinweise: Jeder Kilometer ist gut
markiert, und es gibt viele Kreidepfeile und rot-weiße Flatterbänder.
Die DLRG Berlin und Hennigsdorf übernehmen die Streckenbetreuung und
alle 5 km die Versorgungsstellen.
Pünktlich 18 Uhr fällt der
Startschuss mit viel Applaus. Auf der Tartanbahn verlassen wir das
Stadion zu einem Kleingartengelände bis km1. Das vordere Drittel mit mir
überqueren die von der Polizei geregelte Kreuzung. Nach 150m ertönt es
von hinten: “Halt! Zurück!” Die ganze voreilige Meute hat den
entscheidenden Pfeil verpasst. Das fängt ja prächtig an! Die
Gartenfelder und die Tegeler Brücke überspannen die beiden Arme des
Spandauer Schifffahrtskanals. Allmählich kämpfen wir uns wieder von
hinten durch die Reihen der aufmerksamen Mehrheit, die keinen Umweg nahm.
Am Ufer des Kanals am Rande einer Gartenkolonie ist die alte Reihenfolge
wieder halbwegs hergestellt. Kurz nach km3 erreichen wir den Tegeler
See, mit herrlichem Blick darauf in der abendlichen Sonne und sich
tummelnden Motor- und Segelbooten. Kanuten, Ruderer und Angler üben
ihren Sport aus und Badegäste schwimmen. 10km lang umrunden wir den Seen
nun in Ufernähe, bis zum Havelbecken. Wir teilen uns mit Radfahrern und
Spaziergängern die schmalen Wege,
meist aus weichem Waldboden.
Nach VP1 müssen wir bei km 6 eine Treppe hoch auf eine Brücke, die einen
Zufluss des Sees überspannt. Es sollte im weiteren Verlauf nicht das
einzige derartige Hindernis bleiben.
Eine von mehreren schräg
versetzten Barrieren, die das Durchfahren von Fahrzeugen verhindern,
wird vom Läufer neben mir übersehen. Geräuschvoll stößt er gegen diese
metallene Barrikade. Zum Glück bleibt er verletzungsfrei und kann
weiterlaufen.
Bei der Orientierung gilt: Immer
der Nase nach! Wir vertrauen darauf, dass die Marschroute an Abzweigen,
wo keine Pfeile zu entdecken sind, einfach geradeaus weiterführt.
Unzählige Wege und kleine Pfade rechts und links lassen uns wegen
fehlender Markierungen oftmals zweifeln. Bis irgendwann das nächste
Kilometerschild auftaucht, welches uns die Gewissheit verschafft: Wir
haben uns nicht verlaufen.
Die faszinierende
Gewässerlandschaft findet im Anschluss an den Tegeler See ihre
Fortsetzung bei der Umrundung der Havel, die uns in den äußersten
Nordwesten führt. Bei der Halbmarathonmarke verlassen wir Berlin und
laufen durch die brandenburgische Kleinstadt Hennigsdorf. Hier treffen
wir auf den Berliner Mauerweg, der auf 160 km den Verlauf der
DDR-Grenzanlagen kennzeichnet. Am 16./17.08. finden als Erinnerung an
die Teilung Berlins und das Leid der Opfer die 3. “100 Meilen Berlin”
statt, auch bekannt als “Mauerweglauf”.
Wir folgen 9km diesem Weg westlich der Havel, bis wir bei km 30 wieder
Spandau erreichen und damit Berlin.
Inzwischen ist es dämmerig
geworden. Wir kommen in den Genuss eines traumhaften Sonnenuntergangs.
Bei km 31 auf einem Rad- und Fußweg sehe ich linker Hand die Havel,
rechter Hand die Kleingartenanlage des Ortsteils Hakenfelde im Spandauer
Forst. Plötzlich rufen mir Spaziergänger zu: “Achtung! Vorsicht!” In
breitester Mundart berlinerte ein Einheimischer: “Jleich werdeta awer
loofen, wa?” Kurze Zeit später verstehe warum. Eine Wildschweinrotte mit
6 Tieren wühlt 40 m neben mir im Gras. Sie fühlen sich durch uns Läufer
und die Spaziergänger nicht gestört und bleiben friedlich, unbeirrt ihre
Nahrungssuche fortsetzend. Dass Wildtiere die Randbereiche der
Hauptstadt erobert haben, ist mir bekannt. Nun werde ich selbst
Augenzeuge, glücklicherweise folgenlos. Viele Läufer haben die
Schwarzkittel im Dunklen nicht einmal bemerkt.
Bei km32 am Johannes-Hospiz
Spandau ist die Kindertrauergruppe ansässig, der der Erlös des Vollmond-Marathons
zugute kommt. Ratlos stehe ich an einer doppelarmigen Wegkreuzung: Wohin?
Trotz der zuvor eingeschalteten Stirnlampe habe ich wohl den
entscheidenden Pfeil übersehen. So warte ich auf die nächsten Läufer und
habe Glück: Einer kennt sich hier aus. Meine Frische der ersten
Streckenhälfte ist längst verloren und ich will nur noch ankommen.
Wenig später bewege ich mich
über eine Freifläche auf die Havel zu, die der Kurs zwischenzeitlich
verlassen hatte. Von dort aus ist der Vollmond in seiner ganzen
Leuchtkraft zu bewundern. Der Namensgeber der Veranstaltung hat somit
seine Schuldigkeit getan und mir eine stille Freude bereitet.
Besonders schön anzusehen und
außerordentlich pittoresk sind auch die beleuchteten Spandauer Inselchen,
Buchten und Wasserstraßen der Havel. Selbst zu fortgeschrittener Stunde
jubeln uns Kinder und Erwachsene zu am Verpflegungspunkt bei km 35.
Überhaupt begleitet uns diese Begeisterungsfähigkeit auf dem gesamten
Weg.
Zwei Brücken bringen uns auf die
Insel Eiswerder und über die Havel, an deren Ufer wir 2km laufen. Der
schmale Trampelpfad mit beiderseits hoch gewachsenem Gras, Brennnesseln
und Buschwerk liegt in völliger Dunkelheit. Ohne Stirnlampen wäre ich
rettungslos verloren, könnte die Richtungspfeile nicht entdecken und
auch nicht diese verschlungenen Wege. Trotzdem will ich mich nach dem
überwundenen Dickicht bei einigen jungen Leuten vergewissern, ob sie
andere Läufer auf der Spandauer Havelpromenade gesehen haben. Deren
halbherziges Ja verunsichert mich ziemlich. Umso erleichterter bin ich,
als ich die nächste Versorgungsstelle erreiche, die letzte heute, 4km
vor dem Ziel, unterhalb der Wasserstadtbrücke, die die Havel überspannt.
Nicht lange danach erreiche ich den Spandauer Schifffahrtskanal.
Den finsteren Uferweg, nur
beleuchtet durch meine Stirnlampe überspannt eine Brücke. Aber ich folge
der zuvor eingeschlagenen Richtung, da ich keine anderweitige Markierung
erspähe. Auf das km41 hoffend, bleibe ich auf diesem Kurs, bis der
Zweifel Überhand gewinnt und ich nach 500m umkehre. Schon von Weitem
sehe ich 2 Läufer mit Stirnlampen über die Brücke laufen. Und wirklich,
bei genauer Betrachtung entdecke ich den Pfeil, der mich nun auf die
Brücke schickt. 1 km verschenkt! Auf der anderen Seite taucht dann das
ersehnte Kilometerschild 41 auf.
Die letzten 2 km verlaufen wie
die ersten, nur andersherum. Bei der Marathonmarke kommt festliche
Stimmung auf, denn lauter kleine Lampions säumen den Weg. Gartenfreunde
der Kolonie am Hohenzollernkanal, wie der Spandauer Schifffahrtskanal
früher hieß, erfreuen uns mit dieser Illumination. Nun ist es nicht mehr
weit. Es folgen Tegeler Brücke, Gartenfelder Straße und -Brücke. An der
Kreuzung zum Saatwinkler Damm ist jemand extra dazu beordert, die
Fußgängerampel für uns Läufer auf Grün zu drücken. So kann ich ohne
Wartezeit passieren. Die Kleingartenanlage beim Stadion ist in
nächtliche Dunkelheit gehüllt, die mein Lämpchen nur schwach erhellt.
Nichtsdestotrotz sind die weißen Kreidepfeile gut auszumachen. Wenig
später erreiche ich die vom grellen Flutlicht erleuchtete Tartanbahn des
Stadions im Sport Centrum Siemensstadt, den Ausgangspunkt meiner
vierstündigen Tour. Nach den allerletzten 200 Metern durchlaufe ich das
Ziel und werde wie alle anderen namentlich vom Sprecher beglückwünscht.
Für meine durch Irrwege verlängerte Strecke (44,6 km), die offiziell nur
43,1 km mißt, habe ich 4:02 h gebraucht und bin damit als 4. der M45 im
Ziel. Jetzt erwarten mich Medaille, Zielverpflegung und eine gelöste
Stimmung.
Fazit: Trotz kleiner Mehrwege und Streckenunsicherheiten habe ich
eine spannende und abenteuerliche Laufveranstaltung erlebt, in
wunderschöner Seen- und Waldlandschaft, bei bestem Wetter, mit lauter
freundlichen Organisatoren und netten Teilnehmern. Und mit dem Erlös
wird zudem ein guter Zweck unterstützt. Die Kinder und Betreuer des
Spandauer Trauerhospizes danken es uns.
Wegen der Nähe zur Erde
erscheint der Vollmond nur alle 13 Mondphasen so groß, dass man ihn als
“Vollmond des Jahres” bezeichnen kann. Für den 29.08.2015 ist der 2.
Berliner Vollmond-Marathon geplant, wieder in meinen Sommerferien. Ich
komme wieder nach Spandau, um meinen Start bei diesem kleinen aber
feinen Event zu wiederholen.
Euer Heiko
Bilder
Blaskapelle |
Spendenübergabe |
Start im Stadion |
Tegeler See |
Vollmond am Tegeler See |
Der schöne klare volle Mond |
Zielverpflegung |
Im Ziel |
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