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Letzte Änderung: 01.11.2011

Am schönen Vierwaldstädter ist er unterwegs, ...

4. Luzern Marathon

31.10.2010

 


 

 (Bericht+Fotos: Gottfried Oel)


...der Lauf-Philosoph Gottfried

Der Luzern Marathon 2010 – Eindrücke und Erfahrungen eines Marathonläufers
 

Einer der schönsten Marathonläufe in der Schweiz. Definitiv.


Die Anfahrt nach Luzern

Über Bregenz das Rheintal herunterkommend, am fjordgestreckten Waalensee entlang, mit dem spontan drängenden Bedürfnis dort von der Straße zum See hin abzufahren, um mich in das blendende Flutlicht der Sonne zu strecken. Wahrscheinlich wäre ich nur im so stark von der Seeoberfläche reflektierten Sonnenlicht erblindet. So fahren wir die Bergwelt verlassend weiter auf Landwegen an die Spitzausläufer des Zürichsees, um dann auf einmal, zu diesem Zeitpunkt unerwartet in den Stadtverkehr von Luzern eingesaugt zu werden. Ein bisschen hat es mich schon innwendig geärgert, also dieser „human defect“, diese meist schon charakteristische Vergesslichkeit von mir. Habe ich doch sowohl die Örtlichkeit unseres vorgebuchten Hotels nicht parat als auch die Anmeldung zum Marathon selber vergessen. Und ich weiß beim besten verflixten Willen nicht, wo die Startnummernausgabe ist.

Birgit, mein ehelicher Rettungsengel, zeigte mal wieder die Geduld, die ich so an ihr liebe, weil sie auch diese Situationen mit einen ungemeinen Vertrauen auf das „Irgendwie-wird-das-schon-noch-mit-ihm“ meistert. Sie hält allweil souverän unaufgeregt zu mir und rangiert unseren verbeulten weinroten Mercedes E 190 couragiert durch den unduldsamen Geschäftsverkehr der Luzerner Innenstadt. Die Geschäfte werden heute bereits um 16:00 Uhr schließen. Dann geschieht mir doch die Gnade des Zufalls vor meiner persönlichkeitseigenen Vergesslichkeit: Da ist die Tourist-Info rechterhand vorbeigeflitzt. Nervös geworden und riskant rote Ampeln negierend, entkomme ich dem innerstädtischen Verkehrsfluss Schweizer Einkaufsflüchtlinge und finde dort freundlichsten Rat und jegliche Info, die ich brauche, um mich in Luzern nun zurechtzufinden.

Amor urbis Lucernae I

Diese Stadt musste einen Marathon anlocken. Schräg und scharf geschnitten scheint eine nachmittägliche Herbstsonne durch die Straßen, schneidet Schattenlinien über die mondänen Stadthäuser und Empirehotels am See. Ein erster Eindruck weitet meine Empfindung. Das ist wichtig sage ich mir, wenn ich eine fremde Stadt im ersten impressionistischen Eindruck in mich aufnehmen will. Schön bist du Luzern, und so wohl gelegen, gesättigt mit den Bergen reihum und dem See auf dem dein Spiegelbild tänzelt. Ein südliches Versprechen bist du, denke ich, obwohl du auf der Nordseite vor der Alpenhauptkette gelegen bist. Zum ersten Mal über die Stadtbrücke zum Schweizerhof, wo wir die Startnummern abholen wollen.

Historisch ist der Schweizerhof bekannt geworden, weil dort die Geheimtreffen des Generals Wolff mit den Alliierten im Frühjahr 1945 stattgefunden haben. Dadurch hat die gesamte Heeresgruppe der deutschen Wehrmacht in Oberitalien noch im April 1945 ohne „Endkampf“ in den Alpen kapituliert können.

Startnummernausgabe im Schweizer Hof und die Nacht von Luzern

Die Starnummernausgabe fand im Schweizer Hof statt, und das ist ja nicht irgendein Hotel. Dieser entsprechend kultivierte Rahmen eines Nobelhotels formte auch meine Manieren entsprechend zu mehr höflicher Gestik und Geduld. Eine ansonsten aufgeregte Messeatmosphäre wie auf anderen Marathonläufen konnte ich hier nicht bemerken. Die Organisation war ein Schweizer Meisterwerk: Präzise im Ablauf und charmant durch die lächelnd geschenkten Aufmerksamkeiten an den Ausgabestellen. Das kann nur ein Schweizer Marathon bieten: Eine zunächst triviale Sportveranstaltung mit einem fast bürgerlich-aristokratischen Ambiente zu verbinden, in der kurzbehoste und vor Startaufregung hopsige Läufer sich so deplaziert fühlen müssten wie ein Känguru im Kühlschrank.

Vor dem Hotel stehen Palmen Parade. Wenige Läufer, die nicht in Eile sind, genießen zu dieser Zeit die letzten spektakulären Sonnenstrahlen an der Uferpromenade. Um 16 Uhr schließt das Hotel die hohen Türen zu den Repräsentationsräumen, pünktlich wie in der Ausschreibung angekündigt. Viele Spätankommer, vor allem aus dem bayerischen Ausland, wie Jürgen Schröpf vom LLC Marathon Regensburg, müssen sich die Nummern am anderen Tag recht kompliziert vor dem Lauf abholen oder sich die Starunterlagen telefonisch an der Hotelrezeption zurücklegen lassen. Auch dies geschieht mit großzügiger Selbstverständlichkeit. Birgit und ich holen unser Auto aus der Tiefgarage des Migros und finden auch an den von uns abverlangten Parkkosten diesmal nichts Kritikwürdiges.

Dank des in der Tourist-Info erhaltenen Stadtplanes finden wir unser Hotel einfach. Die Straßenstruktur Luzerns ist durchschaubar. Birgit hat um die Familienkasse noch mehr zu schonen einfach darauf bestanden das billigste Hotel zu nehmen (ohne Dusche und Toilette am Zimmer). „Stell Dich nicht so an, Du bist schließlich Marathonläufer und nicht als Tourist nach Luzern gekommen“. Das Tourist-Hotel kann ich Euch wirklich empfehlen, gleich an der aus dem Vierwaldstättersee abfließenden Reuß gelegen, der es gerade so wildwasserwild an dieser Stelle pressiert dem See zu entkommen. Ich würde dort wieder parkieren, trotz der schlaflosen Nacht, die ich vor dem Marathon verbracht habe. Unser Fenster ging zur Reuß hinaus und das rauschende Fließgeräusch ist für mich bei offenen Fenster einfach um den Schlaf bringend, ähnlich wie wenn man neben einer deutschen Autobahn ohne Lärmschutzwall auf einer Wiese schlafen müsste.

Dabei ist die Heizung, die angestellt ist, nicht flexibel von Hand zu regulieren. Sollte es also einfach an den geschlossenen Fenstern dieser Nacht gelegen haben, dass meine O2 Sättigung für eine Zeit unter 4 Stunden, die ich auf jeden Fall laufen wollte, nicht gereicht hat? Aber es ist so, dass viele Kritik die man sonst wohl unzufrieden äußern würde, nur deswegen unterbleibt, weil das „Menschliche“ stimmt. Und das war auch so! Durch besonderen Charme und eine immer passende freundliche Fürsorge hat der aus Schottland stammende Portier, Jim McKellar, im wunderbaren englisch-schweizerischen Idiom dafür gesorgt, dass Birgit und ich uns wohl fühlten und wir die selbst gewählten Umstände so gar nicht auf die wertende Goldwaage zu legen brauchten.

Das Frühstück mit anderen Marathonis zusammen war ausgezeichnet, reichhaltig und gut sortiert. Das nächste Mal in Luzern würde ich, um noch ungelebte Erfahrung nachzuholen, im ehemaligen Kantonsgefängnis in der Löwengasse nächtigen: Die Zellen sind noch original und nur bescheiden auf Hotelstandart gebracht. (www.jailhotel.ch)

Amor urbis Lucernae II 

Wir treten auf den Balkon über der Reuß hinaus. Zuerst schaue ich ein fremdes Zimmer betretend immer nach draußen als reflexive innere Handlung, wohl dem Bedürfnis nach Orientierung und Selbstortung folgend, Ferne und örtlich Unbekanntes, das mich umgibt im raschen Überblicken zu bestaunen. Das Rauschen des Flusses dominiert alle anderen Geräusche, die aus dem nahen Stadtzentrum heran dringen könnten. „Groß und mächtig, schicksalsträchtig“ macht sich der Pilatus und nimmt das Gesichtsfeld nach Südosten ganz auf sich beziehend ein, schneegekrönt im Gipfelbereich mit kalten Winden ganz bestimmt da oben. Der berühmte Turm im verbreiterten Abflussbett der Reuß, irgendwie hat man ein asymmetrisches Gefühl für seinen Standort, weil er die alte holzüberdachte Stadtbrücke aus dem 14. Jahrhundert nicht in der Mitte schütz, hält oder verteidigt.

Jetzt Anfang Oktober wird es früh dunkel. Birgit und ich gehen noch zur alten Stadtmauer hinauf, die über einen Bergrücken gebaut es der Stadt erlaubte, sich jederzeit gegen die habsburgischen Landvögte im Luzerner Hinterland zu verteidigen. Von der Seeseite drohte keine invasorische Unterdrückungsgefahr, denn die früheren Österreicher waren und sind es bis heute: Unkundig im Schiffsbau.

Eine fast überirdische Feierlichkeit lag in dieser kühlen Herbstluft über der Stadt. Das Atmen war ein Geschenk und das leichte, immer wieder innehaltende Gehen auf der Stadtmauer mit Blick auf die erhellte Stadt und den dunklen See weckte lyrische Erinnerungen. Die in Schwyz, Uri und Unterwalden drüben angehenden Lichter der Dörfer und die Berghotels, die auf den Höhen isoliert wie tiefliegende Sterne strahlende Lichtpunkte zu uns herunterschickten. Der Halbmond im lila verwebten Nachthimmel bildet eine ganz besondere Atmosphäre und hat uns auf jeden Fall für diese Stadt empfindsam eingenommen. Hier könnte ich bleiben und genießen, müsste ich nicht morgen schon auf die Marathonstrecke.

Die Suche nach bayerischen Restaurantpreisen

Sicher gut und gerne zwei dutzend Speisekarten in der Innenstadt studierend, um bayrisch-konforme Preise für ein Nachtessen zu entdecken, bummeln Birgit und ich anfänglich verärgert durch die Luzerner Innenstadt, nicht im mindesten gewogen auch unter Berücksichtigung frei kalkulierter Kursumrechnung sich diesen schweizerischen Preisdiktat zu unterwerfen. Mit Zunahme von Müdigkeit jedoch, aus einem unklaren Gemisch von Empörung, Erklärungsversuchen und Hunger, schwindet unser Widerstand dahin und wir finden eine etwas abgelegene Kneipe, eher für arme Studenten aus dem Oberland geöffnet, in der wir für ein „Kinderschnitzel“ (gemäß der nach oben offenen oberpfälzischen Skala für Portionierungen im Gastgewerbe) und ein paar Bratkartoffelchen jeweils 28 Franken zahlen.

 

Da musste ich doch noch drei Bier an diesen Abend trinken. Die Restaurants sind mit geselligen Runden kommunikativer Menschen randvoll überfüllt und die vielen jungen Leute, die in zufälligen oder verabredeten Clans für das bevorstehende nächtliche Vergnügungsleben auf den Plätzen zusammenstehen oder sich in dafür tradierten Gassenwinkeln treffen und lachen, locken uns heute nicht sonderlich zum Verweilen. Ich bin ja zum Marathon nach Luzern gekommen.

Endlich: Der Luzerne Marathon

Birgit und ich machen uns nach der Verabschiedung von Jim McKellar zu Fuß durch die schon sonnenangewärmte Innenstadt zum Startplatz auf den Weg. An der Uferpromenade nach Süden über den See hin zaubert die Sonne glitzernde Lichtreflexe, noch einmal vorbei am Schweizer Hof. In die grünen Seehügel, sanft und behutsam steigen sie vom See aus aufwärts, sind viele weitere Hotels gestaffelt gebaut. Manchmal sieht man ein manieriertes Wirrwarr an Gebäudekomplexen, jegliche Ästhetik negierend, weil radikal neben respektable Noblesse aus dem Biedermeier auf unerträgliche Weise modernistische Architektur geklotzt wurde.

An der Seepromenade ist schon viel los. Wie immer sind die Läufer mit Ritualen beschäftigt. Jeder Läufer hat seinen individuellen Modus gefunden, wie er sich die letzten 20 oder 30 Minuten vor dem Start verhalten will und ist hierbei manchmal so aufgeregt, dass ein häufigeres Miktionsbedürfnis, vor allen bei Männern, auftritt. Trotz ausreichenden Toilettenhäuschen im Startbereich erleichtern sich die Buben in den See. Es dürfte aber als ausgeschlossen gelten, dass sich die Trinkwasserqualität heute signifikant verschlechtert. Wir genießen diese vibrierende Anspannung kurz vor dem Start. Dieses erregende Startgefühl mit einer ungeheueren Bewusstseinsdichte, wird sich erst wieder im Laufen und durch das Laufen lösen lassen.

Es wird in Luzern gestaffelt gestartet. Alle paar Minuten verzögert, rückt ein Startfeld der Startlinie immer näher und wird dann mit einer fast unglaublichen Emphase von den Zuschauern auf den Weg geschickt. Das wird sich den ganzen Lauf über beschreiben lassen: Diese Aufmerksamkeit der Zuschauer, das ist das Größte für Läufer, die Anfeuerung mit deinem persönlichen Vornahmen, Fremde werden simultan damit zu Freunden. Exstatische Anfeuerungsrufe verführen Läufer zu spontanem Tempowechsel. Die Caritas Luzern kann sich auch beim 4. veranstalteten Marathon wieder über die großzügige Kleiderspende der Läufer freuen.

Alle Kleidung, die sich für den Lauf nun als zu warm und zu sperrig erweist, wird kurz vor dem Startschuss ausgezogen und mit einen Akt, der sowohl Freude über die leichte Entsorgung als auch Spenderstolz bedeutet, schwungvoll und entschieden über die Absperrgitter geworfen. Der Tag verspricht Licht, wenn auch keine Erwärmung, die es mir aber erlaubt in kurzen Hosen zu starten. Ich bin reichlich empfindlich. Ein letzter blinzelnder Blick mit tiefen Durchatmen in die lichtumfangenen gelbbunten Baumblätter, dann werden wir endlich auf den Weg geschickt.

Es geht wieder hinunter über die breite Seebrücke, vor lauter Zuschauermassen ist die Sicht auf die schöne Stadt blockiert. Ein schmaler Streifen See leuchtet fast weiß durch die Menschenwand. Am Bahnhof vorbei, ein einziger kollektiver Jubelschrei, ein langer grellblauer Teppich am Art-Museum muss überlaufen werden, eine originale Dudelsacktruppe mit grünen Röckchen ist soldatisch brav aufmarschiert. Ich lasse mich vorwärts treiben, überhole keine Vorderläufer, passe sorgfältig auf niemanden anzurempeln. Ich genieße einfach nur die Wiederentdeckung  innerer Ruhe nach der Startaufregung und fühle, wie mich die gleichgeformte Bewegung in einen kurzen rhythmischen Taumel versinken lässt.


Blinder Läufer mit Begleiter, gut markiert von hinten zu erkennen

 
 

Schon lange laufe ich Marathonstrecken ohne auf die Uhr zu schauen. Ich gebe meinem Körper die Fähigkeit zurück, über sich selbst zu wachen. Er soll entscheiden, wie schnell mich meine Füße heute vorwärts tragen wollen. Nur manchmal gebe ich dem Esel Körper diktatorische Befehle. Vor allem auf der zweiten Runde wird das notwendig. Nach 3 km etwa sind wir aus dem mondänen Seegürtel der Stadt in einen Vorort gelaufen, der allerdings nicht, wie in vielen anderen Städten aus gesichtslosen Fabrikhallen und industriellen Produktionsbetrieben besteht. Siedlungsneubauten sieht man im Gegensatz zum Regensburger Umland in der Schweiz relativ selten. Jedoch hier im nahen Stadtbereich entsteht neuer Wohnraum in viergeschossiger Hochbauweise.

Es stehen immer noch viele anfeuernde Zuschauer am breiten Straßenrand – halten die so lange aus bis wir auf der zweiten Runde hier vorbeilaufen?


Sein offener Geist (und Schuh) charakterisieren...

...den Laufphilosoph Gottfried

Langsam bröseln die Gebäude ins nicht mehr gänzlich umbaute Umland hinaus, dörflich wird es. Wiesen streuen sich zwischen die Häuser, eine mit alpenländischer Souveränität dastehende Gruppe mit Alphörnern bläst uns röhrend fast um. Und dann überrascht es mich schon, dass da plötzlich eine Steigung beginnt, mit der ich überhaupt nicht gerechnet habe. Lächelnd mit reduziertem Tempo die Schrittlänge verkürzend ist der Lauf über den Hügel kein Problem.

Es müssen aber noch 2 weitere Anstiege überlaufen werden, die isoliert betrachtet für einen Läufer keine ernsthafte Herausforderung darstellen. Jedoch führt das in Summe dann beim zweiten Durchlaufen der Strecke doch zu erheblichen Ermüdungserscheinungen und zu einem drastischen Anstieg der Herzfrequenz. Mensch, aber das ist doch das Salz in der Suppe des Läufers! Es gibt nichts Langweiligeres als die Ebene und die Gerade. Als Läufer liebt man Wege, die ins noch nicht gelaufene Terrain abzirkeln, die auf eine Höhe zuführen und uns mit einer neuen Aussicht auf einen neuen Horizont beglücken.


„Wir wollen sein  ein einzig Volk von Brüdern, in keiner Not uns trennen und Gefahr.
Wir wollen frei sein, wie die Väter waren, eher den Tod, als in der Knechtschaft leben.“
  (Schiller)

Der Luzern Marathon hat sich in seiner 4. Auflage nun diskussionslos etabliert. 1.500 klassische Marathon-Läufer im Ziel sind eine beachtliche Anzahl. Mit den 4.500 Läufern über die Halbdistanz ist die Kapazität lange noch nicht erschöpft. Ist der Marathonboom der 80er und 90er Jahre mit unaufhörlichem Wachstum an Veranstaltungen und Teilnehmern andererorten schon mit rückläufiger Tendenzen beschrieben worden, so dürfte für den Luzern Marathon, hier in der Mittelschweiz eher das Gegenteil zu prognostizieren sein. Und das bei der Nähe zu den europaweit bekannten Läufen in Biel, Lichtenstein, Lausanne, Davos, Jungfrau und Zermatt.

Wir durchlaufen unablässig in verdichteten Läuferpulks die Straße oberhalb der buchtenreichen Uferlinie. Gegenüber grüßen uns unerreichbar nahe Berge. Diese Gegend ist das Bethlehem der Schweiz, der imaginär-reale Geburtsort freier, selbstbewusster Bauerngemeinschaften, die bereit waren militärisch und mit einer weltgeschichtlich fast einsamen Totalität gegen die historische Norm der Unterdrückung das Risiko der Freiheit zu wagen.

Nach der Ortschaft Kastanienbaum kommen wir endlich direkt in Kontakt mit dem See. Oberhalb waren die Zugänge zum Wasser und von Luzern her in einer ununterbrochenen Umzäunung versperrt. Wir konnten im manchmal atemlosen Vorbeieilen einen Sekundenblick auf die Villengebäude hinunterwerfen, die unbewohnt schienen. Zumindest empfing uns hier kein Beifall. Die Spitze der Halbinsel wird besetzt von einer Frühstücksversammlung nobler Applaudeure, die jedes Beifallsintermezzo zu einem weiteren Schluck aus dem stets gefüllten Sektglas nützen. Langsam nähern wir uns der Ortschaft Horw. Zum Luzerner Stadtberg, dem Pilatus. Mit der steilsten Zahnradbahn der Schweiz ist er besiegbar. Wir müssen den Kopf schon weit in den Nacken legen, um ihn noch in seiner ganzen Höhe bestaunen zu können. Immer wieder wird an allen Ecken und Abzweigungen musikalische Unterhaltung geboten, dabei den Rhythmus der Läufer so interpretierend, dass diese beim Passieren von einer vermeintlich ungewöhnlichen Kraft vorwärts getragen werden. Wir nähern uns Luzern auf schon vertrauten Wegen. Die uns bereits entgegenlaufenden Athleten an der Spitze des langgezogenen Lauffeldes können uns keine Aufmerksamkeit entgegenbringen. Wir jedoch gratulieren, nicht immer im lauten Zuruf, so doch auf jeden Fall jeder mit stummer Bewunderung. Über den Inseliquai durch das tosende Spalier enthemmt wirkender Zuschauer laufen wir zum Europaplatz, überlaufen farblich irritiert den blendendblau ausgerollten Teppich, kommen auf die Stadtbrücke und biegen auf die fast 2km lange Haldenstraße ein. Sie bringt uns zur Marathonwende einige Hundert Meter vor dem Ziel beim Verkehrshaus. Jeder Läufer wird mit Namen einzeln vorgestellt. So höre ich auch merkwürdig fremd und wie von ganz weit entfernt, meinen Namen über Lautsprecher ausgerufen. Die Besucher an der Strecke können auf einmalige Weise voll in das Laufgeschehen integriert werden, weil in Abständen mehrere Lautsprecher die Nachrichten simultan die Straße aufwärts ausrufen. Das hat zur Folge, und auf dem zweiten Rückweg werden es die Marathonläufer wirklich von ganzen Herzen zu würdigen wissen, dass man namentlich mit guten Worten von fremden Menschen motiviert wird.

Die 2. Runde variiert nur geringfügig zur ersten. Wir Marathonläufer passen nun überschaubar auf die Straßen und empfinden unsere Strapazen solidarisch miteinander. Die Sonne des Vormittages ist wie ausgeschaltet oder eher um einige Helligkeitsstufen niedriger eingestellt. Wind kommt entgegen meteorologischer Prognosen nicht auf. Ich kann laufen, unbekümmert laufen, wenn ich nicht frieren muss. Um das zu verhüten, trage ich auch oft schon mal eine Stofflage zuviel mit mir herum. Jeder der jetzt gehen muss, sollte die gute Hoffnung haben das Ziel zu erreichen, wenn nicht im selbst abgeforderten Laufmodus, dann durch selbstverständlich erlaubte intermittierende Gehpausen.

 

Ich selbst fühle eine Schwäche in mir, die auch durch ein etwas längeres Verweilen am Verpflegungsstand kurz vor der Inselspitze nicht wieder zu vertreiben ist. Die körperliche Befindlichkeit der Schwäche wird von Marathonläufern oft viel beängstigender empfunden, als dies bei Läufern vorkommt, die gewohnt sind weit über die Marathondistanzen hinauszulaufen. Marathonläufer sind oft Zeitkontrolleure, die Schwäche an sich nicht leicht akzeptieren mögen. Wenn der Weg noch so lang ist (das 30km-Schild habe ich gerade passiert) kann es vorkommen, dass auf das Ankommen im Ziel so drängend fokussiert wird, dass die noch zurückzulegende Distanz unüberwindbar scheint.

Als ich gerade dabei bin mir eine innere Zuflucht des passiven Zuwartens einzurichten und mein Lauftempo schon reduziert habe, laufen mit blauen Ballons sofort zu erkennen, die beiden Zugläufer für ein 4 Stunden Limit an mir vorbei. Mit willentlicher Umschaltung auf mehr motorische Disziplin gebe ich den Befehl an meine Beine im Pulk der Zugläufer für den Rest der Strecke zu verbleiben. Über viele Kilometer gelingt mir das überraschenderweise, ich wache wieder auf, partizipiere wieder am Laufgeschehen, mache auch wieder Fotos, kann wieder selbstvergessend Kontakt mit Mitläufern aufnehmen.


Die blaue Matte zur Halbdistanz 21km

Laufen bedeutet Abwarten können. Die Stadt kommt näher, wirklich näher. Zurück zu den Alphornbläsern, noch einmal den Läuferlohn der applaudierenden Zuschauer empfangen, die lange, lange Straße entlang mit der Sicherheit eines definitiven Ankommens.

Wieder die Lautsprecherdurchsagen mit meinen Namen;. Ich höre noch ablenkungsbereit auf die Durchsagen und kann ein sensibles Gefühl der Verabschiedung wahrnehmen, vom Marathon, von dieser wunderbaren Stadt. In 1 Stunde schon werde ich mit Birgit auf dem Weg in die Stadt Bern sein. Die Präsentation des Zieleinlaufs am Verkehrshaus, dem Museum mit den meisten Besuchern in der Schweiz ist schon ein besonderer Höhepunk. Ein Verkehrsflugzeug ist auf dem Platz geparkt. Der Zielkanal ist mit einem roten Teppichläufer ausgelegt und jetzt kommt man den begeisterten Zuschauern wirklich ganz nahe. Das hat schon was und man ist verleitet viel langsamer zu laufen als man noch kann, um hier diese Stimmung voll auskosten zu können. Im Ziel wird man von Hans-Rudi Schorno, dem verantwortlichen Macher und Gestalter dieses Marathons mit Handschlag und aufmunternden Glückwünschen begrüßt. Wären jetzt auch noch die Duschen und Umkleideräume angrenzend und nicht in einer Entfernung von 800 m auf einem Schulhof untergebracht, dann wäre dies ein ganz besonderes Positivum.

So aber könnte, vollverschwitzt wie wir sind, bei höheren Temperaturen und grantigen Herbstwinden, dass Gehen zur Dusche recht unangenehme Erkrankungsfolgen haben. Ein alle Läufer fassendes mobiles Duschzelt mit herrlich heißem Wasser, besänftigt alle Fragen nach dem Wenn und Aber einer Situation, die nicht existent ist. Heute nicht. Luzern, mein Marathon, komme ich wieder? 

Euer Gottfried Oel

 

Infos unter www.lucernemarathon.ch.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

  
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