Die Anfahrt nach Luzern
Über Bregenz
das Rheintal herunterkommend, am fjordgestreckten Waalensee entlang, mit
dem spontan drängenden Bedürfnis dort von der Straße zum See hin
abzufahren, um mich in das blendende Flutlicht der Sonne zu strecken. Wahrscheinlich wäre ich nur im so stark von der Seeoberfläche
reflektierten Sonnenlicht erblindet. So fahren wir die Bergwelt verlassend
weiter auf Landwegen an die Spitzausläufer des Zürichsees, um dann auf
einmal, zu diesem Zeitpunkt unerwartet in den Stadtverkehr von Luzern
eingesaugt zu werden. Ein bisschen hat es mich schon innwendig geärgert, also dieser „human defect“, diese meist schon charakteristische Vergesslichkeit von
mir. Habe ich doch sowohl die Örtlichkeit unseres vorgebuchten Hotels
nicht parat als auch die Anmeldung zum Marathon selber vergessen. Und
ich
weiß beim besten verflixten Willen nicht, wo die Startnummernausgabe
ist.
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Birgit,
mein ehelicher Rettungsengel, zeigte mal wieder die Geduld, die ich so
an ihr liebe, weil sie auch diese Situationen mit einen ungemeinen
Vertrauen auf das „Irgendwie-wird-das-schon-noch-mit-ihm“ meistert. Sie
hält allweil souverän unaufgeregt zu mir und rangiert unseren
verbeulten weinroten Mercedes E 190 couragiert durch den unduldsamen
Geschäftsverkehr der Luzerner Innenstadt. Die Geschäfte werden heute
bereits um
16:00 Uhr schließen. Dann geschieht mir doch die Gnade des
Zufalls vor meiner persönlichkeitseigenen Vergesslichkeit: Da ist die Tourist-Info rechterhand vorbeigeflitzt. Nervös geworden und riskant
rote Ampeln negierend, entkomme ich dem innerstädtischen Verkehrsfluss
Schweizer Einkaufsflüchtlinge und finde dort freundlichsten Rat und
jegliche Info, die ich brauche, um mich in Luzern nun zurechtzufinden.
Amor
urbis Lucernae I
Diese
Stadt musste einen Marathon anlocken. Schräg und scharf geschnitten
scheint eine nachmittägliche Herbstsonne durch die Straßen, schneidet
Schattenlinien über die mondänen Stadthäuser und Empirehotels am See.
Ein erster Eindruck weitet meine Empfindung. Das ist wichtig sage ich
mir, wenn ich eine fremde Stadt im ersten impressionistischen Eindruck
in mich aufnehmen will. Schön bist du Luzern, und so wohl gelegen,
gesättigt mit den Bergen reihum und dem See auf dem dein Spiegelbild
tänzelt. Ein südliches Versprechen bist du, denke ich, obwohl du auf der
Nordseite vor der Alpenhauptkette gelegen bist. Zum ersten Mal über die
Stadtbrücke zum Schweizerhof, wo wir die Startnummern abholen wollen.
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Historisch ist der Schweizerhof bekannt geworden, weil dort die
Geheimtreffen des Generals Wolff mit den Alliierten im Frühjahr 1945
stattgefunden haben. Dadurch hat die gesamte Heeresgruppe der deutschen
Wehrmacht in Oberitalien noch im April 1945 ohne „Endkampf“ in den Alpen
kapituliert können.
Startnummernausgabe im Schweizer
Hof und die Nacht von Luzern
Die Starnummernausgabe fand im Schweizer Hof statt, und das ist ja
nicht irgendein Hotel. Dieser entsprechend kultivierte Rahmen eines
Nobelhotels formte auch meine Manieren entsprechend zu mehr höflicher
Gestik und Geduld. Eine ansonsten aufgeregte Messeatmosphäre wie auf
anderen Marathonläufen konnte ich hier nicht bemerken. Die
Organisation war ein Schweizer Meisterwerk: Präzise im Ablauf und
charmant durch die lächelnd geschenkten Aufmerksamkeiten an den
Ausgabestellen. Das kann nur ein Schweizer Marathon bieten: Eine
zunächst triviale Sportveranstaltung mit einem fast
bürgerlich-aristokratischen Ambiente zu verbinden, in der kurzbehoste
und vor Startaufregung hopsige Läufer sich so deplaziert
fühlen müssten wie ein Känguru im Kühlschrank.
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Vor dem
Hotel stehen Palmen Parade. Wenige Läufer, die nicht in Eile sind,
genießen zu dieser Zeit die letzten spektakulären Sonnenstrahlen an der
Uferpromenade. Um 16 Uhr schließt das Hotel die hohen Türen zu den
Repräsentationsräumen, pünktlich wie in der Ausschreibung angekündigt.
Viele Spätankommer, vor allem aus dem bayerischen
Ausland, wie Jürgen Schröpf vom LLC Marathon Regensburg, müssen sich die
Nummern am anderen Tag recht kompliziert vor dem Lauf abholen oder sich
die Starunterlagen telefonisch an der Hotelrezeption zurücklegen lassen.
Auch dies geschieht mit großzügiger Selbstverständlichkeit. Birgit und
ich holen unser Auto aus der Tiefgarage des Migros und finden auch an
den von uns abverlangten Parkkosten diesmal nichts Kritikwürdiges.
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Dank
des in der Tourist-Info erhaltenen Stadtplanes finden wir unser Hotel
einfach. Die Straßenstruktur Luzerns ist durchschaubar.
Birgit hat
um die Familienkasse noch mehr zu schonen einfach darauf bestanden das
billigste Hotel zu nehmen (ohne Dusche und Toilette am Zimmer). „Stell
Dich nicht so an, Du bist schließlich Marathonläufer und nicht als
Tourist nach Luzern gekommen“. Das Tourist-Hotel kann ich Euch wirklich
empfehlen, gleich an der aus dem
Vierwaldstättersee abfließenden Reuß gelegen, der es gerade so
wildwasserwild an dieser Stelle pressiert dem See zu entkommen. Ich würde dort wieder parkieren, trotz der
schlaflosen Nacht, die ich vor dem Marathon verbracht habe. Unser
Fenster ging zur Reuß hinaus und das rauschende Fließgeräusch ist für
mich bei
offenen Fenster einfach um den Schlaf bringend, ähnlich wie wenn man
neben einer deutschen Autobahn ohne Lärmschutzwall auf einer Wiese
schlafen müsste.
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Dabei ist die Heizung, die angestellt ist, nicht flexibel von Hand zu
regulieren. Sollte es also einfach an den geschlossenen Fenstern dieser
Nacht gelegen haben, dass meine O2 Sättigung für eine Zeit unter 4
Stunden, die ich auf jeden Fall laufen wollte, nicht gereicht hat? Aber
es ist so, dass viele Kritik die man sonst wohl unzufrieden äußern
würde, nur deswegen unterbleibt, weil das „Menschliche“ stimmt. Und das
war auch so! Durch besonderen Charme und eine immer passende freundliche
Fürsorge hat der aus Schottland stammende Portier, Jim McKellar, im
wunderbaren englisch-schweizerischen Idiom dafür gesorgt, dass Birgit
und ich uns wohl fühlten und wir die selbst gewählten Umstände
so gar nicht auf die wertende Goldwaage zu legen brauchten.
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Das Frühstück mit anderen Marathonis zusammen war ausgezeichnet,
reichhaltig und gut sortiert. Das nächste Mal in Luzern würde ich, um
noch ungelebte Erfahrung nachzuholen, im ehemaligen Kantonsgefängnis in
der Löwengasse nächtigen: Die Zellen sind noch original und nur
bescheiden auf Hotelstandart gebracht. (www.jailhotel.ch)
Amor urbis Lucernae II
Wir treten auf den Balkon über der Reuß
hinaus. Zuerst schaue ich ein fremdes Zimmer betretend immer nach
draußen als reflexive innere Handlung, wohl dem Bedürfnis nach
Orientierung und Selbstortung folgend, Ferne und örtlich Unbekanntes,
das mich umgibt im raschen Überblicken zu bestaunen. Das Rauschen des
Flusses dominiert alle anderen Geräusche, die aus dem nahen Stadtzentrum
heran dringen könnten. „Groß und mächtig, schicksalsträchtig“ macht sich
der Pilatus und nimmt das Gesichtsfeld nach Südosten ganz auf sich
beziehend ein, schneegekrönt im Gipfelbereich mit kalten Winden ganz
bestimmt da oben. Der berühmte Turm im verbreiterten Abflussbett der Reuß, irgendwie hat man ein asymmetrisches Gefühl für seinen Standort,
weil er die alte holzüberdachte Stadtbrücke aus dem 14. Jahrhundert
nicht in der Mitte schütz, hält oder verteidigt.
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Jetzt Anfang Oktober wird es früh dunkel. Birgit und ich gehen noch zur
alten Stadtmauer hinauf, die über einen Bergrücken gebaut es der Stadt
erlaubte, sich jederzeit gegen die habsburgischen Landvögte im Luzerner
Hinterland zu verteidigen. Von der Seeseite drohte keine invasorische
Unterdrückungsgefahr, denn die früheren Österreicher waren und sind es bis
heute: Unkundig im Schiffsbau.
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Eine fast
überirdische Feierlichkeit lag in dieser kühlen Herbstluft über der
Stadt. Das Atmen war ein Geschenk und das leichte, immer wieder
innehaltende Gehen auf der Stadtmauer mit Blick auf die erhellte Stadt
und den dunklen See weckte lyrische Erinnerungen. Die in Schwyz, Uri und
Unterwalden drüben angehenden Lichter der Dörfer und die Berghotels, die
auf den Höhen isoliert wie tiefliegende Sterne strahlende Lichtpunkte zu
uns herunterschickten. Der Halbmond im lila verwebten Nachthimmel
bildet eine ganz besondere Atmosphäre und hat uns auf jeden Fall
für diese Stadt empfindsam eingenommen. Hier könnte ich bleiben und
genießen, müsste ich nicht morgen schon auf die Marathonstrecke.
Die Suche nach bayerischen Restaurantpreisen
Sicher gut
und gerne zwei dutzend Speisekarten in der Innenstadt studierend, um
bayrisch-konforme Preise für ein Nachtessen zu entdecken, bummeln Birgit
und ich anfänglich verärgert durch die Luzerner Innenstadt, nicht im
mindesten gewogen auch unter Berücksichtigung frei kalkulierter
Kursumrechnung sich diesen schweizerischen Preisdiktat zu unterwerfen.
Mit Zunahme von Müdigkeit jedoch, aus einem unklaren Gemisch von
Empörung, Erklärungsversuchen und Hunger, schwindet unser Widerstand
dahin und wir finden eine etwas abgelegene Kneipe, eher für arme
Studenten aus dem Oberland geöffnet, in der wir für ein
„Kinderschnitzel“ (gemäß der nach oben offenen oberpfälzischen Skala für
Portionierungen im Gastgewerbe) und ein paar Bratkartoffelchen jeweils
28 Franken zahlen.
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Da musste
ich doch noch drei Bier an diesen Abend trinken. Die Restaurants sind
mit geselligen Runden kommunikativer Menschen randvoll überfüllt und die
vielen jungen Leute, die in zufälligen oder verabredeten Clans für das
bevorstehende nächtliche Vergnügungsleben auf den Plätzen zusammenstehen
oder sich in dafür tradierten Gassenwinkeln treffen und lachen, locken
uns heute nicht sonderlich zum Verweilen. Ich bin ja zum Marathon nach
Luzern gekommen.
Endlich: Der Luzerne Marathon
Birgit
und ich machen uns nach der Verabschiedung von Jim McKellar zu Fuß durch
die schon sonnenangewärmte Innenstadt zum Startplatz auf den Weg. An der
Uferpromenade nach Süden über den See hin zaubert die Sonne glitzernde
Lichtreflexe, noch einmal vorbei am Schweizer Hof. In die grünen
Seehügel, sanft und behutsam steigen sie vom See aus aufwärts, sind
viele weitere Hotels gestaffelt gebaut. Manchmal sieht man ein
manieriertes Wirrwarr an Gebäudekomplexen, jegliche Ästhetik negierend,
weil radikal neben respektable Noblesse aus dem Biedermeier auf
unerträgliche Weise modernistische Architektur geklotzt wurde.
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An der
Seepromenade ist schon viel los. Wie immer sind die Läufer mit Ritualen
beschäftigt. Jeder Läufer hat seinen individuellen Modus gefunden, wie
er sich die letzten 20 oder 30 Minuten vor dem Start verhalten will und
ist hierbei manchmal so aufgeregt, dass ein häufigeres
Miktionsbedürfnis, vor allen bei Männern, auftritt. Trotz ausreichenden
Toilettenhäuschen im Startbereich erleichtern sich die Buben in den See.
Es dürfte aber als ausgeschlossen gelten, dass sich die
Trinkwasserqualität heute signifikant verschlechtert. Wir genießen diese
vibrierende Anspannung kurz vor dem Start. Dieses erregende Startgefühl
mit einer ungeheueren Bewusstseinsdichte, wird sich erst wieder im
Laufen und durch das Laufen lösen lassen.
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Es wird in
Luzern gestaffelt gestartet. Alle paar Minuten verzögert, rückt ein
Startfeld der Startlinie immer näher und wird dann mit einer fast
unglaublichen Emphase von den Zuschauern auf den Weg geschickt. Das wird
sich den ganzen Lauf über beschreiben lassen: Diese Aufmerksamkeit der
Zuschauer, das ist das Größte für Läufer, die Anfeuerung mit deinem
persönlichen Vornahmen, Fremde werden simultan damit zu Freunden.
Exstatische Anfeuerungsrufe verführen Läufer zu spontanem Tempowechsel.
Die Caritas Luzern kann sich auch beim 4. veranstalteten
Marathon wieder über die großzügige Kleiderspende der Läufer freuen.
Alle Kleidung, die sich für den Lauf nun
als zu warm und zu sperrig erweist, wird kurz vor
dem
Startschuss ausgezogen und mit einen Akt, der sowohl Freude über die
leichte Entsorgung als auch Spenderstolz bedeutet, schwungvoll und
entschieden über die Absperrgitter geworfen. Der Tag verspricht Licht,
wenn auch keine Erwärmung, die es mir aber erlaubt in kurzen Hosen zu
starten. Ich bin reichlich empfindlich. Ein letzter blinzelnder Blick
mit tiefen Durchatmen in die lichtumfangenen gelbbunten Baumblätter,
dann werden
wir endlich auf den Weg geschickt.
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Es geht
wieder hinunter über die breite Seebrücke, vor lauter Zuschauermassen
ist die Sicht auf die schöne Stadt blockiert. Ein schmaler Streifen See
leuchtet fast weiß durch die Menschenwand. Am Bahnhof vorbei, ein
einziger kollektiver Jubelschrei, ein langer grellblauer Teppich am
Art-Museum muss überlaufen werden, eine originale Dudelsacktruppe
mit grünen
Röckchen ist soldatisch brav aufmarschiert. Ich lasse mich
vorwärts treiben, überhole keine Vorderläufer, passe sorgfältig auf
niemanden anzurempeln. Ich genieße einfach nur die Wiederentdeckung innerer
Ruhe nach der Startaufregung und fühle, wie mich die gleichgeformte
Bewegung in einen kurzen rhythmischen Taumel versinken lässt.
Blinder Läufer mit Begleiter, gut markiert von hinten zu erkennen |
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Schon lange laufe ich Marathonstrecken ohne auf die Uhr zu schauen. Ich
gebe meinem Körper die Fähigkeit zurück, über sich selbst zu wachen. Er
soll entscheiden, wie schnell mich meine Füße heute vorwärts tragen
wollen. Nur manchmal gebe ich dem Esel Körper diktatorische Befehle. Vor
allem auf der zweiten Runde wird das notwendig. Nach 3 km etwa
sind wir aus dem mondänen Seegürtel der Stadt in einen Vorort gelaufen,
der allerdings nicht, wie in vielen anderen Städten aus gesichtslosen
Fabrikhallen und industriellen Produktionsbetrieben besteht.
Siedlungsneubauten sieht man im Gegensatz zum Regensburger Umland in der
Schweiz relativ selten. Jedoch hier im nahen Stadtbereich entsteht neuer
Wohnraum in viergeschossiger Hochbauweise.
Es
stehen immer noch viele anfeuernde Zuschauer am breiten Straßenrand –
halten die so lange aus bis wir auf der zweiten Runde hier vorbeilaufen?
Sein offener Geist (und Schuh) charakterisieren... |
...den Laufphilosoph Gottfried |
Langsam
bröseln die Gebäude ins nicht mehr gänzlich umbaute Umland hinaus,
dörflich wird es. Wiesen streuen sich zwischen die Häuser, eine mit
alpenländischer Souveränität dastehende Gruppe mit Alphörnern bläst uns
röhrend fast um. Und dann überrascht es mich schon, dass da plötzlich
eine Steigung beginnt, mit der ich überhaupt nicht gerechnet habe.
Lächelnd mit reduziertem Tempo die Schrittlänge verkürzend ist der Lauf
über den Hügel kein Problem.
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Es müssen aber noch
2 weitere Anstiege
überlaufen werden, die isoliert betrachtet für einen Läufer keine
ernsthafte Herausforderung darstellen. Jedoch führt das in Summe
dann beim zweiten Durchlaufen der Strecke doch zu erheblichen
Ermüdungserscheinungen und zu einem drastischen Anstieg der Herzfrequenz. Mensch, aber das ist doch das Salz in der Suppe des Läufers!
Es
gibt nichts Langweiligeres als die Ebene und die Gerade. Als Läufer
liebt man Wege, die ins noch nicht gelaufene Terrain abzirkeln, die auf
eine Höhe zuführen und uns mit einer neuen Aussicht auf einen neuen
Horizont beglücken.
„Wir wollen sein ein einzig Volk von Brüdern, in keiner Not uns
trennen und Gefahr.
Wir wollen frei sein, wie die Väter waren, eher den Tod, als in der
Knechtschaft leben.“
(Schiller) |
Der Luzern
Marathon hat sich in seiner 4. Auflage nun diskussionslos
etabliert. 1.500 klassische Marathon-Läufer im Ziel sind eine beachtliche
Anzahl. Mit den 4.500 Läufern über die Halbdistanz ist die Kapazität
lange noch nicht erschöpft. Ist der Marathonboom der 80er und 90er Jahre
mit unaufhörlichem Wachstum an Veranstaltungen und Teilnehmern andererorten schon mit rückläufiger Tendenzen beschrieben worden, so
dürfte für den Luzern Marathon, hier in der Mittelschweiz eher das
Gegenteil zu prognostizieren sein. Und das bei der Nähe zu den europaweit
bekannten Läufen in Biel, Lichtenstein, Lausanne, Davos, Jungfrau und
Zermatt.
Wir
durchlaufen unablässig in verdichteten Läuferpulks die Straße oberhalb
der buchtenreichen Uferlinie. Gegenüber grüßen uns unerreichbar nahe
Berge. Diese Gegend ist das Bethlehem der Schweiz, der imaginär-reale
Geburtsort freier, selbstbewusster Bauerngemeinschaften, die bereit
waren militärisch und mit einer weltgeschichtlich fast einsamen
Totalität gegen die historische Norm der Unterdrückung das Risiko der
Freiheit zu wagen.
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Nach
der Ortschaft Kastanienbaum kommen wir endlich direkt in Kontakt mit dem
See.
Oberhalb waren die Zugänge zum Wasser und von Luzern her in einer
ununterbrochenen Umzäunung versperrt. Wir konnten im manchmal atemlosen
Vorbeieilen einen Sekundenblick auf die Villengebäude hinunterwerfen,
die unbewohnt schienen. Zumindest empfing uns hier kein Beifall. Die
Spitze der Halbinsel wird besetzt von einer Frühstücksversammlung nobler
Applaudeure, die jedes Beifallsintermezzo zu einem weiteren Schluck aus
dem stets gefüllten Sektglas nützen. Langsam nähern wir uns der
Ortschaft Horw. Zum Luzerner Stadtberg, dem Pilatus. Mit der steilsten
Zahnradbahn der Schweiz ist er besiegbar. Wir müssen den Kopf schon
weit in den Nacken legen, um ihn noch in seiner ganzen Höhe bestaunen zu
können. Immer wieder wird an allen Ecken und Abzweigungen musikalische
Unterhaltung geboten, dabei den Rhythmus der Läufer so interpretierend,
dass diese beim Passieren von einer vermeintlich ungewöhnlichen Kraft
vorwärts getragen werden. Wir nähern uns Luzern auf schon vertrauten
Wegen. Die uns bereits entgegenlaufenden Athleten an der Spitze des
langgezogenen Lauffeldes können uns keine Aufmerksamkeit
entgegenbringen. Wir jedoch gratulieren, nicht immer im lauten Zuruf, so
doch auf jeden Fall jeder mit stummer Bewunderung. Über den Inseliquai
durch das tosende Spalier enthemmt wirkender Zuschauer laufen wir zum
Europaplatz, überlaufen farblich irritiert den blendendblau ausgerollten
Teppich, kommen auf die Stadtbrücke und biegen auf die fast 2km lange Haldenstraße ein.
Sie bringt uns zur Marathonwende einige
Hundert Meter vor dem Ziel beim Verkehrshaus. Jeder Läufer wird
mit Namen einzeln vorgestellt. So höre ich auch merkwürdig fremd und wie
von ganz weit entfernt, meinen Namen über Lautsprecher ausgerufen. Die
Besucher an der Strecke können auf einmalige Weise voll in das
Laufgeschehen integriert werden, weil in Abständen mehrere Lautsprecher
die Nachrichten simultan die Straße aufwärts ausrufen. Das hat zur Folge,
und auf dem zweiten Rückweg werden es die Marathonläufer wirklich von
ganzen Herzen zu würdigen wissen, dass man namentlich mit guten Worten
von fremden Menschen motiviert wird.
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Die
2. Runde variiert nur geringfügig zur ersten. Wir
Marathonläufer passen nun überschaubar auf die Straßen und empfinden
unsere Strapazen solidarisch miteinander. Die Sonne des Vormittages ist
wie ausgeschaltet oder eher um einige Helligkeitsstufen niedriger
eingestellt. Wind kommt entgegen meteorologischer Prognosen nicht auf.
Ich kann laufen, unbekümmert laufen, wenn ich nicht frieren muss. Um das
zu verhüten, trage ich auch oft schon mal eine Stofflage zuviel mit mir
herum. Jeder der jetzt gehen muss, sollte die gute
Hoffnung
haben das Ziel zu erreichen, wenn nicht im selbst abgeforderten
Laufmodus, dann durch selbstverständlich erlaubte intermittierende
Gehpausen.
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Ich selbst fühle
eine Schwäche in mir, die auch durch ein etwas längeres Verweilen
am Verpflegungsstand kurz vor der Inselspitze nicht wieder zu vertreiben
ist. Die körperliche Befindlichkeit der Schwäche wird von
Marathonläufern oft viel beängstigender empfunden, als dies bei Läufern
vorkommt, die gewohnt sind weit über die Marathondistanzen
hinauszulaufen. Marathonläufer sind oft Zeitkontrolleure, die Schwäche
an sich nicht leicht akzeptieren mögen. Wenn der Weg noch so lang ist (das 30km-Schild habe ich gerade passiert) kann es vorkommen, dass auf
das Ankommen im Ziel so drängend fokussiert wird, dass die noch
zurückzulegende Distanz unüberwindbar scheint.
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Als ich gerade dabei bin mir eine innere
Zuflucht des passiven Zuwartens einzurichten und mein Lauftempo schon
reduziert habe, laufen mit blauen Ballons sofort zu erkennen, die beiden
Zugläufer für ein 4 Stunden Limit an mir vorbei. Mit willentlicher
Umschaltung auf mehr motorische Disziplin gebe ich den Befehl an meine
Beine im Pulk der Zugläufer für den Rest der Strecke zu verbleiben. Über
viele Kilometer gelingt mir das überraschenderweise, ich
wache wieder auf, partizipiere wieder am Laufgeschehen, mache auch
wieder Fotos, kann wieder selbstvergessend Kontakt mit Mitläufern
aufnehmen.
Die blaue Matte zur Halbdistanz 21km |
Laufen
bedeutet Abwarten können. Die Stadt kommt näher, wirklich näher. Zurück
zu den Alphornbläsern, noch einmal den Läuferlohn der applaudierenden
Zuschauer empfangen, die lange, lange Straße entlang mit der Sicherheit
eines definitiven Ankommens.
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Wieder die Lautsprecherdurchsagen mit
meinen Namen;. Ich höre noch ablenkungsbereit auf die Durchsagen und kann
ein sensibles Gefühl der Verabschiedung wahrnehmen, vom Marathon, von
dieser wunderbaren Stadt. In 1 Stunde schon werde ich mit Birgit auf
dem Weg in die Stadt Bern sein. Die Präsentation des Zieleinlaufs am
Verkehrshaus, dem Museum mit den meisten Besuchern in der Schweiz ist
schon ein besonderer Höhepunk. Ein Verkehrsflugzeug ist auf dem Platz
geparkt. Der Zielkanal ist mit einem roten Teppichläufer ausgelegt und
jetzt kommt man den begeisterten Zuschauern wirklich ganz nahe. Das hat
schon was und man ist verleitet viel langsamer zu laufen als man noch
kann, um hier diese Stimmung voll auskosten zu können. Im Ziel wird man
von Hans-Rudi Schorno, dem verantwortlichen Macher und Gestalter dieses
Marathons mit Handschlag und aufmunternden Glückwünschen begrüßt. Wären
jetzt auch noch die Duschen und Umkleideräume angrenzend und nicht in
einer Entfernung von 800 m auf einem Schulhof untergebracht, dann
wäre dies ein ganz besonderes Positivum.
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So aber
könnte, vollverschwitzt wie wir sind, bei höheren Temperaturen und
grantigen Herbstwinden, dass Gehen zur Dusche recht unangenehme
Erkrankungsfolgen haben. Ein alle Läufer fassendes mobiles Duschzelt mit
herrlich heißem Wasser, besänftigt alle Fragen nach dem Wenn und Aber
einer Situation, die nicht existent ist. Heute nicht. Luzern, mein
Marathon, komme ich wieder?
Euer
Gottfried
Oel
Infos
unter
www.lucernemarathon.ch.
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