Mit Körper, Geist und Seele  
        beim Marathon des Sables 2008 
         
        Zueignung 
         
            Ihr naht euch wieder, schwankende Gestalten, 
            Die früh sich einst dem trüben Blick gezeigt. 
            Versuch‘ ich wohl, euch diesmal festzuhalten? 
            Fühl‘ ich mein Herz noch jenem Wahn geneigt? 
            
        (Faust, 1, Zueignung) 
 
        
         
        Faust und Mephisto wären die ständigen Begleiter. „Und Du, Andreas?“ 
         Mein treuer Freund Albert schaut mir fragend in die Augen nach einem 
        Abendessen in der Sankt Emmeransmühle bei München im Sommer 2007. Die 
        Schatten schwankender Gestalten beim Marathon des Sables 2006 steigen in 
        mir auf. Acht Tage, erst laufen, dann gehen, wandern, schließlich 
        schwanken, manch einer aufgebend. Hitze, Sand, Durst und Schmerzen, aber 
        auch unbeschreibliche Schönheit der Wüste, echte Kameradschaft im Team, 
        Einblick in die Tiefe des eigenen Ich und das strahlende Glück im Ziel. 
         
            Zwei 
        Seelen wohnen, ach, in meiner Brust        
        (Faust, 1112, 
        Studierzimmer) 
         
        Wie ein Film ziehen Bilder vom Marathon des Sables an mir vorbei - Sand 
        überall, im Essen, den Schuhen, den Augen; ekstatische Freude beim 
        Durchwandern der Sahara bei Vollmond mit Blick jenseits der Milchstraße; 
        Dehydrierung, blutige Füße und Magenkrämpfe. Abenteuerlust wie Lawrence 
        von Arabien am Lagerfeuer Geschichten erzählen. Noch einmal dabei sein 
        beim schwersten Ultramarathon - 230 km und mehr durch Geröll, Sand, 
        Fels, Dünen und Salzseen - noch einmal dabei sein, oder nicht sein? Das 
        ist die Frage. Was wäre anders als beim Start 2 Jahre zuvor? Natürlich 
        wäre es die Erfahrung, die vielen Fehler damals bei Training, 
        Ausrüstung, Ernährung, Gesundheit, Kleidung. Aber wichtiger noch, ich 
        hatte seitdem meinen Lebensstil gewandelt und diesen könnte ich auf die 
        Probe stellen: Kein gelegentliches Pfeife rauchen, Verzicht auf Alkohol 
        und die Umstellung auf vegane Ernährung. Die Folgen für Gesundheit, 
        Wohlgefühl und Leistungsfähigkeit waren frappierend. Neun Monate Zeit 
        der Vorbereitung bis zum Start. Zeit für eine Neugeburt. Wie würde ich 
        sie nützen? Bergmarathon in England mit 4.000 Höhenmetern; 
        24-Stundenlauf;
        
        Thames Meander mit 90 km, dazu einige normale Marathons und Ultras, 
        das muss neben Beruf und Familie ausreichen. „Und Du, Andreas?“  
         
        Geist und Körper bilden eine Einheit. Neben Trainingsläufen will der 
        Kopf auf die Ausdauerleistung vorbereitet sein. Mich hält derzeit 
        Goethes Faust in Atem. So begleiten mich Quadflieg und Gründgens auf 
        meinem Musikspieler bei Trainingsläufen und eine ledergebundene 
        Druckausgabe von 1876 auf meinen Geschäftsreisen. Ausreichend geistige 
        Vorbereitung auf dieses Mammut-Vorhaben? In 2006 waren es Schriften des 
        Stoikers Seneca, die mich durch Einsamkeit und Schmerzen der Wüste 
        begleiteten. Mens sana in corpore sano sind 
        nur 2/3 der Medaille, fehlt die Seele! Für sie würde eine kleine 
        Hausapotheke aus Beethovens Streichquartetten, Bach, Tschaikowsky und 
        Smetana sorgen. Für innere Harmonie aus Körper, Geist und Seele wäre 
        somit gesorgt. Wie würde ich es meiner Familie erklären?  Meine Frau 
        Uschi wäre nicht begeistert, schließlich hatte sie in 2006 nicht nur 
        mitgehofft sondern sich auch Sorgen gemacht. Dann müsste ich Urlaub 
        nehmen, Tage, die ich lieber mit meiner Familie verbringen wollte. Der 
        Trainings- und Vorbereitungsaufwand, Suche nach Sponsoren für eine 
        Wohltätigkeitssammlung. Wie würde ich mich durch die Wintermonate zum 
        Training bei Regen und Wind motivieren? Schließlich, wie würde ich im 
        Falle des Falles mit einem Scheitern beim Marathon des Sables umgehen? 
        Fragen, wie wankende Gestalten geistern sie durch Tag- und Nachtträume. 
        „Und Du, Andreas?“  Der treue Freund Albert mit fragendem Blick nach 
        einem Abendessen im Sommer 2007. 
         
            Die Wette biet‘ 
        ich!  
            Top!  
            Und Schlag auf Schlag!        
        (Faust, 1698, 
        Studierzimmer) 
         
        Fast möchte ich 
        mit Schiller antworten: "Faust, 
        Mephisto, ich sei, gewährt mir die Bitte, in Eurem Bunde der Dritte!" 
         
    „Es 
        sei!“ 
            
        Stürzen wir uns in das 
        Rauschen der Zeit, 
            Ins Rollen der Begebenheit! 
            Da mag denn Schmerz und Genuss, 
            Gelingen und Verdruss 
            Miteinander wechseln, wie es kann; 
            Nur rastlos betätigt sich der Mann        
            
        (Faust, 1754, 
        Studierzimmer) 
  
        
         
        Der Marathon des Sables   
         
        Der Marathon des Sables gilt als der schwerste Etappen-Ultramarathon der 
        Welt. Natürlich sieht das jeder Läufer anders und es gibt auf dem Markt 
        der Extremläufe eine wachsende Anzahl anspruchsvoller 
        Konkurrenzveranstaltungen, beispielsweise das
        Atacama Crossing 
        (250 km) oder die Libyan 
        Challenge (190 km non-stop). Was den Marathon des Sables 
        auszeichnet, sind rund 230 km Distanz in 6 Etappen. Austragungsort ist 
        die marokkanische Sahara mit Temperaturen bis 55°C, kein  Schatten, 
        Sandstürme. Laufuntergrund ist Sand, Geröll, Stein, Fels, und wieder 
        Sand, Sand, Sand. Die Organisation stellt lediglich Wasser (9 Liter pro 
        Tag und Teilnehmer), einfachste Berberzelte aus zusammengenähten 
        Kaffeesäcken und dünne Teppiche. Die gesamte Verpflegung für die Woche, 
        Kleidung, Schlafsack, Isomatte und Pflichtgegenstände sind vom 
        Teilnehmer zu tragen. Am Start sind das mit Wasserflasche gut 9 kg, im 
        Ziel nur noch 4 - 5 kg. 
         
        Das Abenteuer beginnt beim Abflug in London. Als einer der ersten 
        Passagiere verlasse ich am Tag der Eröffnung das neue Terminal 5 von 
        Heathrow Airport. Ich habe großes Glück, mein Gepäck wird befördert. 
        Anderen Läufern geht es wie 40.000 weiteren Passagieren, deren Gepäck in 
        den Katakomben von T5 für Tage verschwindet. Glück gehabt. Von London 
        nach Frankfurt, Umsteigen auf die Royal Air Maroc nach Casablanca, 6 
        Stunden Aufenthalt, Weiterflug nach Ouarzazate, einige Stunden Schlaf im 
        Hotel La Gazelle, dann im Bus über die Ausläufer des Atlas nach Merzouga 
        zum Fuße einer der höchsten Dünengebiete Afrikas. Nach 2 Tagen Anreise 
        endlich in der Sahara! 
  
        
         
        Gesundheitskontrolle 
         
        Wer antizyklisch durch sein Leben zu gehen versteht, hat Vorteile beim 
        Marathon des Sables. Wo sich 800 Läufer durch Flugsteige, Buffets, 
        Checkpoints, Wasserausgaben, Ärztezelte und Kontrollen drängen, bilden 
        sich Schlangen. Man kann anstehen und warten, meist bei Hitze und Sonne, 
        oder dem Ansturm der Läufer im Schatten entgehen und abwarten. Bereits 
        bei der Material- und Gesundheitskontrolle: jeweils zur vollen Stunde 
        werden 100 Läufer zum Kontrollzelt bestellt - zum Schlange stehen. 50 
        Minuten darauf ist die Schlange weg, 10 Minuten später wieder 100 Läufer 
        lang. Ein Schauspiel, das ich vom Schatten meines Berberzeltes 3 Stunden 
        lang beobachte.  Acht Minuten vor meiner offiziellen Zeit gehe ich zur 
        Kontrolle, Pass vorzeigen, Koffer abgeben, Signalrakete entgegen nehmen, 
        Wasser- und Gesundheitskarte, Materialkontrolle, alles innerhalb von 4 
        Minuten. Beim Gesundheitscheck durch die Krankenschwestern der
        Doc Trotters bekomme ich ein 
        Säckchen mit etwa 50 weißen Pillen ausgehändigt.  „Das sind 
        Salztabletten. Bitte 3 Tabletten pro 1,5 l Wasserflasche einnehmen!“  
        „Drei?“  „Drei!  Ihr erster Marathon des Sables?“ „Mein 
        zweiter.“ „Irgendwelche Fragen?“ „Nein.“ „Viel Glück!“ - Beim Verlassen 
        des Zelts, der Vorgang hat keine 10 Minuten gedauert, brutzeln 99 Läufer 
        in der Sonne, aufgereiht wie auf einer Perlenkette, vor dem 
        Kontrollzelt. Es ist 11:02 Uhr. Um 17 Uhr die offizielle Begrüßung in 
        der Mitte des Biwaks einfacher Berberzelte, je 8 Läufer pro Zelt. 
        Älteste Teilnehmerin aus Japan ist über 70 Jahre, sie wird den Lauf 
        leider nicht beenden, der Jüngste ist 18 aus Italien. Die lange Etappe 
        ist Bernard Julé gewidmet, der in 2007 nach dieser Etappe verstarb. 
        19 Uhr Wasserausgabe. 799 Läufer reihen sich auf, ein Engländer hätte 
        seine Freude an der wohlgeordneten Queue. Ich richte meinen Schlafsack, 
        sortiere die letzten Dinge für die morgige Dünenetappe und spaziere um 
        zehn vor acht zur Wasserausgabe. Keine Schlange, antizyklisch eben.  
        Zeit genug für einen Smalltalk mit den Französinnen. 
  
        
         
        Mein Rucksack 
         
        „Reduce to the max“ muss die Devise für den Marathon des Sables lauten, 
        so wenig wie nur irgend möglich mitnehmen, aber nichts vergessen. Es 
        gibt keine ideale Packliste. Jeder Läufer muss selber einschätzen, was 
        er benötigt, was er an Nahrung braucht, wo er einsparen kann.  Das 
        größte Gewicht nimmt naturgemäß das Essen ein. 2.000 Kalorien pro Tag 
        sind Pflicht, mehr ist anzuraten. Mein tägliches Menü besteht aus 200 g 
        Müsli, 400 g Nüssen, 200 g Fruchtzucker, den ich á 50 g abgepackt in 
        einer 1,5 l Wasserflasche auflöse, Vitamintabletten und ein Travelunch 
        Fertigessen für den Abend. Das habe ich über mehrere Tage und längere 
        Läufe getestet und kann damit gut leben. Der hohe Anteil kalorienreicher 
        Nüsse ist nicht jedermanns Sache und sollte wohl überlegt und 
        ausreichend getestet sein. 
        
            Grau, teurer 
        Freund, ist alle Theorie 
            Und grün des Lebens goldner Baum       
        (Faust, 2038, 
        Studierzimmer) 
         
        Auch bei der Kleidung geize ich mit Gewicht und Volumen meines 
        Rucksacks: Ich laufe in Kurz-Tight und eng anliegendem T-Shirt (beide 
        schwarz). Für die Nacht führe ich eine lange Tight und ein langärmliges 
        Laufhemd mit, dazu ein Paar Ersatzsocken und Unterwäsche.  Meine 
        schwarze Mütze mit dem professionell von meiner lieben Frau genähten 
        Nackenschutz komplettieren die Kleidung. Der Rest sind Luxus (ein altes 
        Bändchen Faust, ein Musikspieler, Sonnencreme) beziehungsweise 
        Pflichtgegenstände wie Stirnlampe, Ersatzbatterien, Feuerzeug, etc. 
        Wichtigster Teil meines Rucksacks ist die Brusttasche. Hier führe ich 
        meine 1,5 l Wasserflasche und alles mit, das ich während der Tagesetappe 
        benötige: Fruchtzucker, Nüsse, Sandsturmbrille.  Die Brusttasche bildet 
        ein Gegengewicht zum Rucksack und erlaubt ein aufrechtes Laufen. 
  
        
         
        Erste Etappe - 31 km 
         
        Die Webseite hatte es einige Tage zuvor verraten, es sollte mit 
        245 km der längste Marathon des Sables seiner 23-jährigen Geschichte 
        werden.  Nach subjektiver Meinung etlicher Veteranen würde es auch die 
        schwierigste erste Etappe sein. 14,7 km durch Afrikas Riesendünen bei 
        Merzouga bis zur ersten Wasserausgabe, zum Ziel hin weitere Dünen. Schon 
        so früh wollte Patrick Bauer das Feld auseinander reißen. Ob der 2007er 
        Marathon des Sables zu einfach war? Morgens täglich das gleiche 
        Ritual. Mit den ersten Sonnenstrahlen rückt die Berber-Kompanie aus, 
        reißt die dürftigen Zeltplanen ab, rollt die löchrigen Teppiche 
        zusammen. Ab 6 Uhr 30 sitzt man im Sand, eingehüllt in Schlafsack, 
        löffelt Haferflocken mit Wasser, richtet Kleidung und Rucksack, ein 
        letzter Blick ins Road Book über die Schönheiten und Tücken der 
        Strecke. 7 Uhr Wasserausgabe, ich gehe gegen 6:55 Uhr oder 7:50.  Ab 
        8:30 Uhr Sammeln an der Startlinie, ich mache mich erst um 8:50 Uhr auf, 
        antizyklisch eben, 8:55 Uhr unsere Morgenandacht: „Drei Salztabletten 
        pro Wasserflasche“, ein Happy Birthday für die Geburtstagskinder, einige 
        Worte zur Streckenführung und Zielschlußzeit. Dann der Countdown, ein 
        „Go!“, der Helikopter der Eurosport-Journalisten knattert wie eine Salve 
        Maschinengewehrfeuer über unseren Köpfen, das Gedränge durch den 
        Startbogen. Es geht los. Wie jedes Jahr stürmen einige Hundert Läufer 
        vor als gäbe es nach 3000 Metern Freibier. Dort sitzen sie dann 
        frustriert im Meer haushoher Dünen, ringen nach Luft und lechzen nach 
        Wasser. Die ersten Läufer steigen bei Check Point 1 nach 14 km 
        aus. Trauriger Rekord. Das Laufen durch die Dünen ist beschwerlich.  Die 
        Kraft des Fußabdrucks verpufft im Sand.  Ich marschiere stattdessen mit 
        weniger Anstrengung und suche meinen Weg abseits der durchgetretenen 
        Piste der Vorläufer.  Nach einer halben Stunde bemerke ich eine 
        französische Läuferin vor mir, rund 50 Meter rechts vom Hauptfeld der 
        Läufer sucht sie ihren Weg. Sie liest die Dünen mit ihrer weichen und 
        harten Seite präzise und bahnt sich einen guten Weg. Kraft sparend komme 
        ich rasch voran, halte rund 100 m Abstand, um eventuelle Fehler 
        abzufangen und sicherzustellen, sie nicht überholen zu müssen. Sie macht 
        ihre Führungsarbeit ausgezeichnet, während sich der Läufertross im 
        Gänsemarsch langsam durch den aufgewühlten Sand quält. Antizyklisch. Mit 
        2,2 l Wasser bin ich morgens gestartet. Der erste Check Point kommt in 
        Sicht am Ende der Merzouga-Dünen, mir verbleiben noch 0,7 l. Ich gönne 
        mir den Luxus meine schwarze Mütze, Gesicht und Nacken zu 
        befeuchten. Bis zum Check Point ist das Wasser aufgebraucht. An jedem 
        Check Point das gleiche Spiel: Chipkarte an das Lesegerät halten, das 
        ist eine Neuerung in 2008, Wasserkarte abknipsen lassen, Wasserflasche 
        entgegen nehmen. Dann der strenge Blick der Krankenschwester der Doc 
        Trotters: „Three salt tablets per bottle of water“, drei Salztabletten 
        pro Flasche. „Are you OK?“  Glücklich wie ein Kind im Sandkasten. Mein 
        Grinsen springt über, wird mit einem sympathischen Lächeln belohnt. Der 
        Sandsturm der Nacht zuvor hatte sich morgens gelegt, es ist windstill 
        und heiß, heute nur 45° in der Spitze.  Bis zum Check Point 2 geht es 
        über flachen, steinigen Grund. Jetzt kann ich endlich laufen nach dem 
        Marsch durch das Dünenmeer, der feste Grund gibt guten Halt.  Meine 
        Schulter schmerzt, dann mein Rücken. 7 kg wog mein Rucksack (plus 
        Kleidung) am Start, dazu 1,5 l Wasser und meine eiserne Reserve von 
        0,7 l am Rucksack. Das zehrt, aber täglich sollte es weniger werden. Ab 
        Check Point 2 wieder Dünen.  Sie sehen so harmlos aus.  Man sieht stets 
        nur eine und denkt sich Kinderspiel. Auf dem Kamm der Düne der Blick auf 
        die nächste, höhere.  Gut, eine noch.  Oben angelangt, freie Sicht auf 
        die dritte, höhere. So geht das weiter. Nach einem Dutzend Dünen der 
        Blick auf das Biwak. Ich bin der dritte in unserem Zelt Nummer 67, 
        Sharon Gayter, seit 12 Jahren englische Meisterin im 24-Stunden- und 
        100-km-Lauf ist schon da, gefolgt von Paul.  Die Reihenfolge sollte sich 
        an den kommenden beiden Tagen wiederholen. Erst später treffen Steve, 
        Gavin und Colin ein, drei tapfere Krieger. Im Zelt versorge ich meine 
        Füße, koche Wasser auf für mein Fertigessen, Tofu mit Kartoffeln und 
        Gemüse. Dämmerung, Dunkelheit, Kälte der Nacht. Ich liege in meinem 
        Schlafsack, lese im Schein meiner Stirnlampe einige Seiten Goethes 
        Faust.   
         
            Die Sonne tönt nach alter Weise 
            In Brudersphären Wettgesang, 
            Und ihre vorgeschriebne Reise 
            Vollendet sie mit Donnergang. 
            Ihr Anblick gibt den Engeln Stärke, 
            Wenn keiner sie ergründen mag; 
            Die unbegreiflich hohen Werke 
            Sind herrlich wie am ersten Tag        
            (Faust, 243, 
        Prolog im Himmel) 
         
        Über mir der sternklare Wüstenhimmel, Planeten, Milchstraße, 
        Sternzeichen, ein Blick ins Jenseits menschlicher Vorstellungskraft.  
        Ein demütiger, einsamer Moment und Abschluss des ersten Tages. 
  
        
         
        Das Leben im Biwak 
         
        Sechs bis acht Läufer teilen sich eines der über 100 schwarzen Zelte 
        im Biwak des Marathon des Sables. Das Zelt besteht aus einer Plane, die 
        mit Eisenhaken in der Erde verankert wird.  Stöcke dienen als 
        Zeltstangen. Zwei Seiten sind offen und lassen den kühlenden Wind 
        durch.  Bei Sandsturm können die Seiten geschlossen werden, mit dem 
        Risiko, dass bei stärkerem Wind das Zelt zusammenbricht. Den Boden 
        bedecken zwei dünne rote Teppiche. Diese bieten zwar keine gute 
        Isolierung, ich empfand sie jedoch ausreichend und verzichtete auf eine 
        Isoliermatte; weitere 400 Gramm Gepäck eingespart. Früh morgens werden 
        die Zelte abgerissen, die Matten eingerollt, auf Lastwagen zum nächsten 
        Biwakplatz transportiert und von der Organisation aufgebaut. Die 
        Zeltkollegen bilden für die Woche des Marathon des Sables den 
        Familienersatz.  Die Strapazen des Wettkampfs bringen alle positiven und 
        weniger angenehmen Seiten der menschlichen Persönlichkeit zum 
        Vorschein.  Wählt man seine Zeltkollegen mit Menschenkenntnis oder hat 
        schlichtweg Glück, wie ich es hatte, mit einem großartigen Zelt #67, 
        dann ist der Teamgeist innerhalb des Zeltes eine große emotionale 
        Stütze. Im anderen Falle könnte Zwist und Disharmonie den Lauf zum 
        Höllenritt machen. Man lebt und schläft eng beieinander. Eventuelles 
        Schnarchen fällt nicht auf. Man ist nach jeder Etappe müde genug um 
        neben einem startenden Jumbojet einzuschlafen. Auch persönliche 
        Duftnoten der Zeltkollegen fallen nicht auf, hat man selbst seit Tagen 
        nicht geduscht und riecht entsprechend. Die Kollegen im Zelt sind erste 
        Anlaufstelle zum Teilen der Freuden und Leiden der täglichen Etappe. Man 
        tauscht Tipps aus zum Umgang mit wunden Füßen, der Sonne, dem 
        Standsturm.  Es entwickelt sich eine Kultur von Tauschgeschäften „biete 
        Travelunch Pasta Napoli gegen zwei Rationen Müsli“, bei denen Geld 
        keinerlei Wert besitzt.  Die gesamte Ökonomie beim Marathon des Sables 
        besteht aus dem, was man vom Start weg im Rucksack mit sich führt. Nach 
        Sonnenuntergang erhält jeder Läufer einen Ausdruck mit Emails, die im 
        Lauf des Tages für ihn eingehen. Dies ist ein besonderer Moment, man 
        liest sich gegenseitig die Nachrichten vor, so dass auch diejenigen sich 
        freuen die selber leer ausgingen. Für die menschlichen Bedürfnisse 
        werden einfachste Toilettenzelte außerhalb des Biwak errichtet.  Da 
        Hygiene und Optik zu wünschen lassen, suchen sich viele Läufer ein 
        stilles Örtchen hinter einem Busch oder einer Düne. In den ersten Tagen 
        entfernt man sich dafür gerne 500 m vom Zelt, nach den ersten Blessuren 
        an den Füßen ab Etappe drei reichen für das kleine Geschäft auch schon 
        10 Meter. So reduziert sich das Leben im Biwak auf die elementarsten 
        menschlichen Bedürfnisse: Essen, Schlafen, Stoffwechsel, Bildung 
        sozialer Kleingruppen, Tauschgeschäfte. So ganz anders als unsere 
        komplexe hoch zivilisierte Gesellschaft. 
  
        
         
        Zweite Etappe - 38 km 
         
        6 Uhr Sonnenaufgang, 6:10 Uhr wird die Zeltplane abgerissen, 6:30 Uhr 
        die Teppiche eingerollt.  Ein Morgen in der Sahara wie jeder andere.  
        Ich habe gut geschlafen, die Haferflocken mit Wasser schmecken (noch), 
        dazu drei Handvoll Nüsse. Ab 8:00 Uhr das offizielle Teilnehmerfoto zum 
        Marathon des Sables, aufgenommen vom Helikopter. Rory schwingt wie immer 
        seinen übergroßen Union Jack.  Aufstellen an der Startlinie, Besprechung 
        der Etappe, „drei Salztabletten pro Wasserflasche“. Klar, man schwitzt 
        bis zu 9 l Wasser bei den einzelnen Etappen. Ohne Salzausgleich 
        dehydriert der Körper jämmerlich.  Schon nach dem ersten Tag sieht mein 
        schwarzes Hemd wie gebleicht aus durch die Salzausscheidungen. Bis zum 
        Check Point 1 tue ich mich schwer, fühle mich unwohl. Ich weiß, das ist 
        bei mir normal, beim Laufen benötige ich zwei bis drei Stunden um auf 
        Betriebstemperatur zu kommen. Nach Check Point 1 bemerke ich einen 
        Läufer mit aufgenähter mexikanischer Fahne. „Hola Mexicano, ¿qué tál?“  
        Er heißt Antonio, freut sich über die Bekanntschaft eines 
        spanisch-kundigen Läufers. In seinem Zelt Nummer 13 sind fünf Mexikaner, 
        ich werde ihn dort mehrfach besuchen.  Wir reden lange, tauschen 
        nicht-zitierfähige Witze aus, bis jeder wieder seinen eigenen Rhythmus 
        findet. Vor Check Point 2 ein ausgedehnter Salzsee, Temperaturen über 
        50°, wieder Schulter- und Rückenschmerzen.  Ich trage erneut Sonnencreme 
        auf um Verbrennungen vorzubeugen. Ab Check Point 2 laufe ich hinter 
        einem japanischen Popsänger, der non-stop von einer 8-köpfigen TV-Crew 
        gefilmt wird. Armer Kerl, er tut mir leid, kann nicht einmal 
        unbeobachtet in die Büsche ohne halb Japan zu Gast zu haben.  Hätte er 
        besser was Vernünftiges gelernt. Nachdem ich selbst für eine Stunde zum 
        Nebendarsteller in Japans Privat-TV wurde, wird mir der Rummel leid, ich 
        ziehe das Tempo an, Sayonara, finde meine Ruhe und genieße die 
        Einsamkeit der Langstrecke und Schönheit der Wüste. Check Point 3 liegt 
        auf einer kleinen Anhöhe vor einem Berg. Wassermarke abknipsen, „three 
        salt tablets per bottle of water“. Dahinter ein Dutzend Kinder, sie 
        strahlen und winken. Das motiviert, ich denke viel an meine lieben 
        Kinder Laura und Tobias und meine Frau Uschi, sie fehlen mir. Ein 
        großartiger Ausblick vom Berggipfel!  Ich schieße Fotos von Antonio der 
        aufgeholt hat.  Mit Schmerzen im Rücken geht es ins Biwak.  Drei 
        Flaschen Wasser an der Ziellinie, ich weiß schon, drei Salztabletten pro 
        Flasche. Heute gibt es Nudeln mit Tomatensoße. Steve, Gavin und Colin 
        trudeln ein und sehen gar nicht gut aus. Blutige Füße, Blasen, 
        schmerzhafte Besuche in der Beauty Farm bei den Doc Trotters. Gut, dass 
        man die Schreie aus dem Medical Tent nicht bis ins Biwak hört. Ich 
        versuche mich einige Seiten in den Faust hineinzudenken, es gelingt mir 
        heute nicht.   
         
            O glaube mir, der manche tausend Jahre 
            An dieser harten Speise kaut, 
            Dass von der Wiege bis zur Bahre 
            Kein Mensch den alten Sauerteig verdaut! 
            Glaub‘ unsereinem, dieses Ganze 
            Ist nur für einen Gott gemacht! 
            Er findet sich in einem ew‘gen Glanze, 
            Uns hat er in die Finsternis gebracht, 
            Und euch taugt einzig Tag und Nacht.        
        (Faust, 1776, 
        Studierzimmer) 
         
        Schließlich schalte ich um auf Tschaikowskys Pathetique, bewundere den 
        Sternenhimmel, eine windarme Nacht, lausche in Ehrfurcht dem Genie des 
        Russen, der Tage vor seinem Ableben Herz, Seele und Todesahnung zu 
        dieser großartigen Musik formte. Keinem anderen als Bernstein gelingt 
        es, dies so erschütternd-bewegend in Klang zu setzen. Wo besser dies zu 
        fühlen, durchleben, aufgewühltes Durchleiden dieser Passion als in der 
        Schwärze der Nacht und Einsamkeit der Wüste nach Tagen der Anstrengung? 
  
        
         
        Schuhe 
         
        Wichtigstes Bekleidungsstück sind die Schuhe.  Jeder Läufer hat andere 
        Füße, rollt beim Laufen anders ab.  Sein persönliches, optimales 
        Laufschuh-Modell zu haben und einige Jahre Erfahrung damit über lange 
        Distanzen zu sammeln ist ideal. Für den Marathon des Sables muss es ein 
        Trailschuh sein, kein Wettkampfmodell. Die dicke Sohle des Trailschuhs 
        dämpft und schützt vor Dornen, die Stabilität verhindert ein Abknicken 
        beim Lauf durch Geröllfelder und scharfkantigen Fels. Da die Füße bei 
        Extrembelastungen anschwellen, sollten die Schuhe Übergröße haben.  
        Meine Schuhe sind drei Nummern größer als meine normalen Laufschuhe.  
        Den anfänglichen Leerraum im Schuh gleiche ich durch ein zweites Paar 
        Laufsocken aus.  Dies hat Vorteile, muss aber vorab trainiert sein: Zum 
        einen wird der Fußschweiß besser abgeführt, eine der Ursachen für 
        Blasenbildung, zum zweiten ist es eine weitere Schutzschicht vor Sand 
        und natürlich eine Verbesserung der Dämpfung.  Nach einigen Etappen 
        verzichte ich auf das zweite Paar Socken, die geschwollenen Füße 
        beanspruchen ihren Platz. Wichtigste Ergänzung für die Schuhe sind 
        Gamaschen, um den Sand möglichst lange aus den Schuhen fern zu 
        halten. Gute Erfahrung habe ich mit einem kommerziellen Modell gemacht, 
        welches per Klettverschluss an den Schuhsohlen befestigt wird.  Leider 
        waren diese Gamaschen am vierten Tag zerschlissen, aber bis dahin 
        hielten sie effektiv den Sand ab. Mein Fehler war es, den 
        Klettverschluss vom Schuster nur mit Klebstoff anbringen zu lassen; 
        besser hätte ich das Klett-Band vom Sattler annähen lassen. Andere 
        Läufer schwören auf Damen-Nylonsocken, die über den Laufschuh gestreift 
        werden. Zwar halten diese maximal eine Etappe, sind aber federleicht und 
        effektiv. Andere stehen auf Stulpen Marke Eigenbau, mit Sekundenkleber 
        am Rand der Schuhsohle befestigt und mit elastischem Band an Knöchel 
        oder Kniebeuge befestigt. Auch im Umgang mit Blasen an den Füßen gibt es 
        so viele Therapien wie Läufer.  Wer es luxuriös mag, geht am Ende der 
        Tagesetappe zur Beauty Farm der Doc Trotters und lässt sich ärztlich 
        versorgen.  Andere ziehen es vor, Blasen unbehandelt zu lassen. Mein 
        Rezept ist: Blase mit einer Sicherheitsnadel aufstechen, ausdrücken, mit 
        Taschentuch trocknen, desinfizieren und an der Wüstenluft heilen 
        lassen.   
  
        
         
        Dritte Etappe - 40 km 
         
        Der sympathische Thomas vom Zelt 70 hat Knieschmerzen, trägt eine 
        Binde am Knie auf Anordnung der Doc Trotters, würde aber mutig durch die 
        Etappe kommen. Brigit, die stolze Wüstenkämpferin mit Wettkampferfahrung 
        aus den entlegensten Winkeln der Erde, klagt über starke Schmerzen im 
        Fuß, sollte heute leider ausscheiden aber nicht ihren ansteckenden Humor 
        verlieren. Je besser ich meine Mitläufer kennen lerne, desto mehr bin 
        von ihnen beeindruckt. Es sind nicht nur Ausnahmeathleten mit großem 
        Erfahrungsschatz im Langstreckenbereich, sondern auch herausragende 
        Persönlichkeiten die in ihren Familien wie am Arbeitsplatz mit der 
        gleichen Sorgfalt und Ausdauer ihren Weg gehen wie bei der Vorbereitung 
        auf den Marathon des Sables. Muss man verrückt sein um diesen Wettkampf 
        zu laufen? Meine Laufkollegen beweisen das Gegenteil. Wer mit beiden 
        Beiden fest im Leben steht kommt beim des Sables sicher ins Ziel. Es ist 
        erster April, so äffen alle Läufer bei der Morgenandacht die Bewegungen 
        der englischen Übersetzerin nach.  Patrick Bauer ist irritiert bis er 
        den Spaß durchschaut. Start ist heute um 8:30 Uhr, nach Morgenandacht, 
        „drei Salztabletten“ und Happy Birthday. Wieder viel Sand, Dünen und 
        tolle Landschaft. Auf halbem Weg zum Check Point 1 überholt mich Paul.  
        Der Mann muss Nerven aus Draht haben, leidet er doch unter blutenden 
        Blasen an den Füßen. Auf halber Strecke zum Check Point 2 ein steiler 
        Anstieg mit großartiger Fernsicht. Dahinter wieder Dünen, der zweite 
        Check Point liegt versteckt.  Patrick Bauer, seit 23 Jahren 
        Cheforganisator des Marathon des Sables, liebt solch ein Versteckspiel. 
        Ab jetzt sind meine Gamaschen verschlissen, die Schuhe werden zunehmend 
        sandiger.  Ärgerlich, aber immerhin hielten sie länger als erhofft, und 
        die sandigsten Strecken liegen hinter uns. Ab dem dritten Check Point 
        wird der Boden fest. Heute macht das Laufen richtig Spaß, einen 
        Kilometer vor dem Zielbogen ziehe ich das Tempo an, sprinte ins Ziel. 
        Same procedure, drei Flaschen Wasser mit dem Hinweis auf die 
        Salztabletten, Wassermarke abgeknipst. Heute gibt es Couscous als 
        Fertigration, aufgebrüht mit heißem Wasser. Zur Verdauung einige Seiten 
        Faust. Ich drehe meine abendliche Runde durch die deutschsprachigen 
        Zelte. Der tapfere Thomas ist lustig wie immer, Dorothe in sich ruhend 
        und glücklich, Andree immer zu einem Scherz aufgelegt, Ralf lächelt 
        zufrieden, Tim ganz unser Lawrence von Arabien aber mit einem Schalk im 
        Nacken, und Jürgen erstaunt mich immer mehr mit seiner Durchhaltekraft 
        und Leichtigkeit.  Alle sind sie gut im Rennen, Anna stets strahlend aus 
        ihrem Inneren Kraft schöpfend und aufrecht in perfekter 
        Alexanderhaltung. Dann kommt Steve ins Zelt mit neonfarbenem Armband, 
        ohne Startnummer. Der Arme musste auf der Strecke aufgeben, 
        Dehydrierung, vermutlich durch einen Virus. Colin gibt tags drauf vor 
        dem Start der 75-km-Etappe auf, blutige Füße. Paul wird auf dieser 
        Etappe nach Check Point 3 aus gleichem Grund aufgeben müssen. So 
        reduziert sich unser Zelt innerhalb von 24 Stunden von 6 auf 3 
        Teilnehmer.  Einerseits schlägt das aufs Gemüt, andererseits ist es 
        Ansporn, die Ehre des Zelts 67 aufrecht zu halten. Sharon und ich, wir 
        freuen uns auf die morgige Monsteretappe.  Beide lieben wir die 
        Langstrecke, 12 und mehr Stunden zu laufen liegt uns im Blut. Die Nacht 
        bricht ein, ein frischer Windhauch durch das Zelt, ein Funkeln am 
        Firmament. Faust drängt sich mir auf, gerne lasse ich ihn eine Stunde 
        gewähren, beruhigt er meine innere Anspannung vor der morgigen Strecke 
        und füllt mich mit Zuversicht. 
        
            Und steigt vor 
        meinem Blick der reine Mond 
            Besänftigend herüber: schweben mir  
            Von Felsenwänden, aus dem feuchten Busch 
            Der Vorwelt silberne Gestalten auf 
            Und lindern der Betrachtung strenge Lust.    
            
        (Faust, 3235, Wald und 
        Höhle) 
  
        
         
        Ernährung 
         
        Jeder Läufer muss seine Nahrungsmittel für die 7 Tage des Marathon des 
        Sables mitführen. Pflicht sind 2.000 Kalorien pro Tag.  Natürlich ist 
        das ein Minimum. Bei den Etappen verbrennt man bis zu 8.000 
        Kalorien. Kein Läufer würde aber 8.000 Kalorien pro Tag an Nahrung 
        mitführen. Bei der Zusammenstellung des Speiseplans ist wichtig, neben 
        Kalorien auch auf Proteine, Vitamine und Mineralien zu achten.  
        Natürlich sollte man alles vorab auf längeren Läufen auf Verträglichkeit 
        getestet haben. Nicht zu unterschätzen auch der emotionale Wert eines 
        Nahrungsmittels: Der Gedanke, sich abends mit einer besonderen Leckerei 
        belohnen zu können kann während der Etappe Berge versetzen. Seit über 
        einem Jahr ernähre ich mich vegan, kein Fleisch, Fisch, Meeresfrüchte, 
        keine Milch oder Milchprodukte, keine Eier. Kurz, keine von Tieren 
        abstammenden Lebensmittel.  
        
            Dich zu verjüngen 
        gibt's auch ein natürlich Mittel; 
            Allein es steht in einem andern Buch 
            Und ist ein wunderlich Kapitel. 
            Gut! Ein Mittel, ohne Geld 
            Und Arzt und Zauberei zu haben: 
            Begib dich gleich hinaus aufs Feld, 
            Fang an zu hacken und zu graben, 
            Erhalte dich und deinen Sinn 
            In einem ganz beschränkten Kreise, 
            Ernähre dich mit ungemischter Speise, 
            Leb‘ mit dem Vieh als Vieh, und acht‘ es nicht für Raub, 
            Den Acker, den du erntest, selbst zu düngen    
            
        (Faust, 2348, 
        Hexenküche) 
         
        Ursprünglich hatte ich meine vegane Ernährung als Selbstversuch 
        begonnen, angelegt auf 3 Monate, nachdem ich einiges darüber gelesen 
        hatte.  Schon kurz nach meiner Umstellung war der Einfluss auf meine 
        Gesundheit und mein Laufen so frappierend positiv, dass ich kein 
        Verlangen verspüre wieder zu einer omnivoren Ernährung 
        zurückzukehren. Auf körperlichem Gebiet sind die Veränderungen bei mir: 
        Normalisierung der Hypertonie, Heilung meines Tinnitus im linken Ohr, 
        Gewichtsabnahme, verbesserte Ausdauer über lange Strecken, mehr 
        Schnelligkeit auf kurzen Strecken, deutlich bessere Regeneration nach 
        langen Trainingseinheiten, Linderung meiner Pollen-allergischen 
        Beschwerden. Auf geistig/emotionaler Ebene: besserer Schlaf, gesteigerte 
        geistige Energie und Konzentrationsfähigkeit, eine emotionale 
        Leichtigkeit und das gute Gefühl, keinem Tier für meinen Mittagstisch, 
        direkt oder indirekt, ein Leid zugeführt zu haben. Beim Marathon des 
        Sables bestand mein Frühstück aus Haferflocken mit Rosinen, dazu 
        Nüssen. Während der Etappe nahm ich Fruchtzucker und Nüsse zu mir, 
        abends dann ein veganes Fertigmenü und Nüsse. Zwei mal täglich eine 
        Vitamintablette, dazu die Salztabletten der Doc Trotters. Das wars. Für 
        mich hat es sich bewährt, aber jeder Läufer ist und isst anders. Hier 
        hilft nur die persönliche Erfahrung. 
  
        
         
        Vierte Etappe - 75 km 
         
        Morgenandacht, Salztabletten, Happy Birthday, 9 Uhr ist Start zu den 
        75 Kilometern. Die Streckenführung ist mir weitgehend aus 2006 bekannt, 
        nur in entgegen gesetzter Richtung. Nach rund 6 km ein langer, steiler, 
        geradezu alpiner Anstieg, Steinschlaggefahr! Sehr langsamer Aufstieg mit 
        schwierigen Kletterpartien, Seilführung an einigen Stellen.  Das ist 
        mehr Bergtour als Laufveranstaltung. Großartige Sicht auf die Wüste von 
        ganz oben. Nach dem Abstieg Dünen bis zum ersten Check Point, einer der 
        schwierigsten Abschnitte des gesamten Wettkampfs. Bis zum Check Point 2 
        flach, steinig, schnell zu laufen. Ich erkenne vieles wieder, den 
        pyramidenförmigen Berg, das Schulgebäude, die schattige Schlucht. Unter 
        Palmen der Check Point 2, idyllisch gelegen, der erste Schatten seit 4 
        Tagen! Viele Läufer erquicken sich, sammeln Kraft für die nächste 
        Etappe, freundliches Gelächter allerorten, Leben, Kinder am Wegesrand. 
            Ich höre schon des Dorfs 
        Getümmel, 
            Hier ist des Volkes wahrer Himmel, 
            Zufrieden jauchzet groß und klein: 
            „Hier bin ich Mensch, hier darf ich's sein!“         
        (Faust, 937, Vor dem 
        Tor) 
         
        Am folgenden Salzsee und in den dahinter liegenden Felsen gab es 2006 
        die meisten Ausfälle.  Jetzt merke ich, dass das Terrain sehr einfach 
        ist.  Damals war es die hohe Luftfeuchtigkeit, die 180 Läufer zur 
        Aufgabe zwang. Eine englische Läuferin schied hier 2006 durch 
        Dehydrierung und Panikattacke aus, ich sah sie damals am Tropf der Doc 
        Trotters inmitten der Felsen.  Bei einem Trainingsmarathon in 2007 nahe 
        Salisbury traf ich sie wieder, jetzt ihr zweiter Anlauf beim Marathon 
        des Sables. Sie würde diese lange Etappe und den Marathon des Sables 
        trotz Déjà Vu beenden, ein großartiger Sieg.  Es sind dies die 
        Geschichten, die dem Marathon des Sables sein Gesicht geben, den Mythos 
        bilden.  Hut ab vor dieser Frau. Der Sand verfärbt sich orange-rot, von 
        einem Felsplateau nach Check Point 3 ein Schauspiel für die Sinne!  Eine 
        leicht abfallende, sandige und sehr schwer zu gehende Rampe bis zum 
        Check Point 4.  Schulter und Nacken schmerzen wieder, in der Hitze des 
        Nachmittags springen meine Gedanken rastlos umher.  
            Der Schmerz wird neu, es 
        wiederholt die Klage 
            Des Lebens labyrinthisch irren Lauf 
            Und nennt die Guten, die, um schöne Stunden 
            Vom Glück getäuscht, vor mir hinweg geschwunden     
        (Faust, 13, Zueignung) 
         
        Die Sonne neigt sich am Check Point, ich bereite mich auf die Nacht vor, 
        lege Stirnlampe an und befestige mein Knicklicht am Rucksack.  „Please, 
        three salt tablets for each bottle of water“. Schon gut, ich 
        weiß. Sonnenuntergang, kurze Dämmerung, dann umschließt mich die Nacht 
        und der klare Sternenhimmel der Sahara. Einer Heerschar Glühwürmchen 
        gleicht die Kette der Läufer, jeder mit einem grünlich schimmernden 
        Knicklicht irrend, tänzelnd durch die frostige Nacht, gleichsam auf dem 
        Wege zu Walpurgis´ Brocken. 
            Mir ist es winterlich im Leibe; 
            Ich wünschte Schnee und Frost auf meiner Bahn. 
            Wie traurig steigt die unvollkommne Scheibe 
            Des roten Monds mit später Glut heran 
            Und leuchtet schlecht, daß man bei jedem Schritte 
            Vor einen Baum, vor einen Felsen rennt! 
            Erlaub‘, dass ich ein Irrlicht bitte! 
            Dort seh‘ ich eins, das eben lustig brennt. 
            Heda! Mein Freund! Darf ich dich zu uns fordern? 
            Was willst du so vergebens lodern?                     
            (Faust, 3849, 
        Walpurgisnacht) 
         
        Auf diesen Moment habe ich mich ein Jahr lang gefreut!  Das Läuferfeld 
        ist auseinander gezogen, ich laufe allein und schnell, als sich die 
        Augen an die Stirnlampe gewöhnen. Jetzt schalte ich mein Musikgerät ein 
        und genieße Beethovens späte Streichquartette Op 127, 130 und 131 mit 
        dem Emerson String Quartet. Welch himmlischer Genuss, die Cavatina aus 
        Op 130 so schön, nicht aus dieser Welt!  Es bedarf schon eines tauben, 
        greisen Genies solche Klänge aus höheren Sphären in irdische Niederungen 
        zu ziehen. Allein, in einem der entlegensten Winkel der Erde, im Antlitz 
        der Gestirne in rascher Bewegung mich auf das Werk eines der größten 
        Denker und Schöpfer zu konzentrieren.   
            Werd‘ ich zum 
        Augenblicke sagen: 
            Verweile doch! Du bist so schön! 
            Dann magst du mich in Fesseln schlagen, 
            Dann will ich gern zugrunde gehn!             
        (Faust, 1699, 
        Studierzimmer) 
         
        Ein zerbrochenes Stück Wirbelknochen, vermutlich von einem Dromedar, 
        leuchtet auf im Schein meiner Lampe. Ich lese es auf, als Symbolon soll 
        es mich an diesen Augenblick erinnern. Die andere Hälfte des Wirbels mag 
        noch in der Sahara ruhen. Passend, gerade die Rückenschmerzen sind das 
        Problem, mit dem ich während des Marathon des Sables zu kämpfen 
        hatte. Mit dem Ersatzteil an Bord bin ich gerüstet; mit dieser 
        Nachtetappe sind alle Schmerzen getilgt. Am Check Point 5: „three 
        tablets, I know“ lehne ich das Wasser ab, ich habe noch ausreichend und 
        laufe ohne Unterbrechung weiter. Bei Check Point 6 das gleiche, jetzt zu 
        den Klängen der Goldberg-Variationen, gespielt von András Schiff. Ich 
        schwimme im höchsten Glück, so sehnt es mich eines Tages aus der Welt zu 
        scheiden, unter sternklarem Firmament, Bach im Herzen, Goethe im Sinn, 
        mutig in die Dunkelheit schreitend. Punkt Mitternacht bin ich im Biwak.  
        Erschöpft falle ich in einen unruhigen Halbschlaf, mir fröstelt im 
        Schlafsack, der Körper hat kaum Kraftreserven, der Geist ist leer, die 
        Seele löst sich vom Zauber der Nachtetappe. 
         
            Wolkenflor und Nebelflor  
            Erhellen sich von oben. 
            Luft im Laub und Wind im Rohr, 
            Und alles ist zerstoben.             
        (Faust, 4395, 
        Walpurgisnachtstraum) 
  
        
         
        Charity 
         
        Kaum ein Läufer unternimmt ein solches Unterfangen für sich allein. Der 
        Marathon des Sables erfordert eine sorgfältige Vorbereitung, Training, 
        Zusammenstellung des Materials. Kaum jemand, der für sich alleine diese 
        Strecke auf sich nimmt. Durch die harschen Bedingungen der Sahara formt 
        sich ein starkes Band innerhalb der Läuferschaft, eine Kameradschaft, 
        Freundschaften für das Leben, wie ich sie bei den Familien der SOS 
        Kinderdörfer erleben konnte: Einem an Dehydrierung oder Blindheit in 
        Folge eines Sandsturms leidenden Mitläufer zu helfen, ist eine 
        Selbstverständlichkeit, selbst wenn das Zeitverlust oder gar 
        Disqualifikation bedeuten könnte. Über Stunden alleine durch die Wüste 
        zu laufen, geleitet durch Kompassnadel und Stand der Sonne ist eine 
        Pilgerschaft ins Zentrum der eigenen Seele.  Bar fast jeder Form 
        irdischer Werte außer etwas Essen und einiger Kleidungsstücke, es 
        erinnert mich an den Zustand vieler verwaister Kinder, wie sie während 
        der Bürgerkriegswirren Anfang der 1980‘er Jahre in den dortigen SOS 
        Kinderdörfern ankamen, in der Hoffnung auf warmherzige Aufnahme. Die 
        Erfahrung von Schmerz, Dehydrierung, Halluzinationen oder gar Ohnmacht 
        konfrontieren den Läufer mit seinen körperlichen und mentalen Grenzen 
        und zwingen ihn zur Auseinandersetzung mit der eigenen irdischen 
        Vergänglichkeit.  In vergangenen Jahren gab es einige Notfälle, auch 
        wenn die medizinische Versorgung der Veranstaltung exzellent und auf 
        neuestem Stand der Technik ist. Meine großartigste Erfahrung beim 
        Marathon des Sables in 2006 war die Nachtetappe. Unter dem einzigartigen 
        Sternenhimmel und bei Vollmond schaltete ich meine Stirnlampe aus und 
        lief zu den Klängen von Tschaikowskys Pathétique-Symphonie in eine 
        andere Welt hinein: Plötzlich vergaß ich Schmerzen und blutende Blasen, 
        Erinnerungen aus meiner Kindheit in El Salvador zogen vor meinem 
        geistigen Auge vorüber und ich wusste, ich müsste den Marathon des 
        Sables wiederholen, zu Gunsten der SOS Kinderdörfer. Der Marathon des 
        Sables ist nicht nur einer der schwersten Ultramarathons, er ist auch 
        eine emotionale Reise die den empfindsamen Teilnehmer im Innersten 
        berührt. Kein Läufer ist nach dem Lauf der gleiche, kein Läufer 
        unternimmt ein solches Unterfangen für sich allein. Ich widme meinen 
        Marathon des Sables 2008 den mutigen Kindern und Familien der SOS 
        Kinderdörfer und lade jeden sehr herzlich ein, die SOS Kinderdörfer zu 
        unterstützen. 100% der unter
        
        www.justgiving.com/adoerfler eingehenden Spenden fließen an die SOS 
        Kinderdörfer, ich habe keinerlei finanziellen oder sonstigen Vorteil an 
        dieser Sammlung. 
  
        
         
        Ruhetag 
         
        36 Stunden werden jedem Läufer für die 75-km-Etappe zugestanden. Wer die 
        Strecke an einem Tag schafft, hat 1 Tag Pause. Viele Läufer übernachten 
        auf halber Strecke und kommen während des 2. Tages über die Ziellinie. 
        Nach sehr unruhigem Schlaf erwache ich mit dem anbrechenden Tag. Zum 
        Frühstück gibt es Couscous mit Gemüse und heißen Tee, ein Genuss in der 
        bescheidenen Einfachheit des Berberzelts. Den freien Tag nutze ich, um 
        mir die verbleibenden 2 Etappen im Road Book anzusehen und die 
        wichtigsten Entfernungen und Steigungen auswendig zu lernen. So kann ich 
        mir die beiden Läufe geistig einteilen und meinen Wasserverbrauch 
        einschätzen. Jetzt erfahre ich, dass leider auch Paul auf der langen 
        Etappe hat aufgeben müssen. Seine Füße sehen schlimm aus, er kann sich 
        nicht fortbewegen und wird von den Ärzten per Jeep die 200 Meter 
        zwischen Zelt und Essensausgabe gefahren. Er hat hart gekämpft, mehr als 
        jeder andere im Zelt, musste sich aber seinen Verletzungen geschlagen 
        geben. Das Sandblaster-Team ist von 4 auf 1 Läufer geschrumpft. Auf 
        Gavin, der gegen 2 Uhr nachmittags im Biwak eintrifft ruhen jetzt die 
        Hoffnungen von Steve, Paul und Colin. Dann lese ich meinen Faust zu 
        Ende, das tragische Finale mit dem Tod von Gretchens Bruder, Mutter und 
        Kind. Stoff genug, um mich einige Stunden lang in Gedanken zu hüllen. 
        Die Dramatik des Faust verwebt sich mit meiner Betroffenheit über das 
        Ausscheiden meiner 3 Zeltkameraden. Gegen 16 Uhr wird die Ankunft der 
        letzten beiden Läufer im Biwak gemeldet. Fast alle Läufer strömen, nein, 
        humpeln, zur Ziellinie, um die beiden mit großem Bravo und Applaus auf 
        ihren letzten Metern anzufeuern. Ein wirklich bewegender 
        Augenblick! Natürlich sind die Leistungen der Spitzenläufer großartig, 
        aber was den Zauber des Marathon des Sables wirklich ausmacht, das ist 
        der Zusammenhalt der Läufer untereinander, vom schnellsten bis zum 
        langsamsten. Keiner wird alleine gelassen, hier lebt noch der wahre 
        olympische Geist. 
  
        
         
        Fünfte Etappe - 42 km 
         
        Nach einer weiteren ruhelosen Nacht wache ich gerädert auf.  Es ist 
        sehr warm, schlechte Vorzeichen für die Tagestemperaturen, die über 50° 
        erreichen sollten.  Eine Doppelration Müsli, Morgenandacht, „drei 
        Salztabletten pro Wasserflasche“, Happy Birthday, los geht's. Bis zum 
        ersten Check Point ist die Strecke flach und einfach zu laufen.  
        Mehrfach überhole ich Bridge, die älteste Teilnehmerin aus England, dann 
        holt sie wieder auf, so sehen wir uns etwa alle Stunde. Hut ab vor 
        dieser eisernen Kondition.  Ich erfahre, dass sie in Cornwall lebt und 
        dort auf dem Coastal Path trainiert. Perfektes Terrain zum Training für 
        den Marathon des Sables, viel Sand, Dünen, Steigungen. Nach dem Check 
        Point 1 zwei Erhebungen, die ich aus 2006 kenne. Beide erschienen mir 
        damals geradezu unüberwindbar, heute sind sie kinderleicht. Deutlich 
        wird, dass wir uns langsam aus der Wüste herausbewegen, man sieht 
        vermehrt Lehmbehausungen, Kinder stehen am Rand und grüßen höflich, 
        einige wenige aufdringlich bettelnd, die Mädchen immer zwei Duzend 
        Schritte von den Jungs entfernt. Dann der englische Läufer am Wegesrand, 
        frustriert sein Kopf zwischen den Knien, sein Army-Rucksack mit Union 
        Jacks übersät. „Come on, tough guy! Für Königin und Vaterland“ ruft ein 
        anderer ihm zu.  Er: „Würde die Queen diesen Unfug für mich 
        laufen?“ Auch wenn er würzigere Worte wählte, der Punkt geht an ihn. Ab 
        dem 2. Check Point wird es heiß, sandig, langsam. Ich trage Sonnencreme 
        auf, jetzt ein Sonnenstich so spät im Rennen wäre schlimm. Dann Palmen, 
        eine kleine Oase, Ruinen, herrlich!  Der 3. Check Point versteckt sich 
        hinter einem Palmenhain, fast hätte ich ihn übersehen, typischer 
        Patrick-Bauer-Humor. Eine Kolonne von einem guten Dutzend Jeeps, 
        Touristen mit Foto- und Videokameras auf Läufer-Safari. Sind wohl auf 
        die big five aus: Nashorn, Löwe, Elefant, Läufer, Leopard. Ich fühle 
        mich wie im Zoo, ich das Tier, im Jeep die Besucher. Fehlt nur, dass sie 
        uns Brotkrumen zuwerfen.  Was sich die Touristen wohl denken mögen über 
        die Reihe irrsinniger, unrasierter und stinkender Wüstenläufer? Besser 
        nicht zu wissen. Bridge überholt mich 2 km vor dem Ziel, ich lasse sie 
        gerne vorbeiziehen, heute geht es schlecht, Dehydrierung, bin im Ziel 
        froh, angekommen zu sein. Kartoffeln mit Gemüse aus der Tüte nach über 
        zwei Litern Wasser. Erst zwei Stunden nach der Ankunft kann ich es 
        aufnehmen, vielleicht doch ein leichter Sonnenstich?  Ich hatte tagsüber 
        nichts aufnehmen können außer meinem mit Maltose/Fruktose angereicherten 
        Wasser. Sharon kommt eine Stunde vor mir ins Biwak, Gavin wird es heute 
        auch schaffen.  Paul wurde von den Doc Trotters in der Beauty Farm ohne 
        Narkose an den Fußsohlen operiert. Der Mann verdient höchsten Respekt 
        und die Patrik-Bauer-Tapferkeitsmedaille. Es ist der letzte Abend in der 
        Wüste.  Gegen 18:30 Uhr gibt es ein Kammerorchesterkonzert, etwa 15 
        Musiker wurden aus Paris eingeflogen, um den Läufern einen besonderen 
        Genuss zu bieten.  Viel Mozart auf dem Programm, nicht berauschend 
        gespielt, aber unter Wüstenbedingungen recht ordentlich.  Ich unterhalte 
        mich mit einigen Musikern, die Cellistin hat bei Christoph Henkel in 
        Freiburg studiert, kleine Welt. 
  
        
         
        Der Vergleich 
         
        Der Marathon des Sables 2008 verlief für mich ganz anders als zwei Jahre 
        zuvor.  Diesmal war es die großartige Erfahrung, das leichte zügige 
        Laufen, das ich mir für 2006 erhofft hatte.  Was war anders? Was hatte 
        ich in 2006 gelernt und diesmal verbessert?  Welche Faktoren spielten 
        noch mit? Wichtigster Unterschied war die Umstellung auf vegane 
        Ernährung. An zweiter Stelle etwas Glück: In 2006 gab es eine 
        Luftfeuchtigkeit von über 40%, für jeden Läufer Gefahr der 
        Dehydrierung. In 2008 waren es teilweise höhere Temperaturen, aber kaum 
        Feuchtigkeit. In 2006 trug ich wie die meisten MdS-Frischlinge weiße 
        Kleidung, in 2008 schwarz, den Veteranen und Touaregs 
        abgeschaut. Tatsächlich kühlt schwarze Kleidung weit besser als helle. 
        Für die Kalorienaufnahme während der Etappen hatte ich ausreichend 
        Fruchtzucker dabei, worauf ich in 2006 verzichtet hatte.  Damals konnte 
        ich während des Laufs aufgrund der Anstrengung und Hitze nichts zu mir 
        nehmen, in 2008 war der im Wasser gelöste Fruchtzucker ideal. In 2008 
        achtete ich auf jedes Gramm bei der Zusammenstellung meiner Packliste 
        und verzichtete auf jeglichen Luxus - abgesehen von Goethes Faust, 
        Fotokamera und Musik-Spieler. Diesmal keine Isoliermatte, weniger 
        Kalorien, weniger Ersatzkleidung, kein zweites Paar Laufschuhe. Jeder 
        dieser Faktoren trug zum Erfolg in 2008 bei, doch schreibe ich den 
        Löwenanteil meiner veganen Ernährung und der daraus folgenden 
        Gesundheit, Regenerationsfähigkeit und Gewichtsabnahme zu.  
  
        
         
        Sechste Etappe - 17 km 
         
        Ausnahmsweise werden die Zelte heute nicht abgerissen, welch Luxus. 
        Kurz vor 9 Uhr die letzte Morgenandacht: „please remember to take three 
        salt tablets per bottle of water!“, leider noch 4 Läufer auf der 
        Marathonetappe ausgeschieden, insgesamt sind es 54. Bis zum Check Point 
        1 ist die Strecke flach und steinig. Dann kommt Tazzarine in Sicht, die 
        Ortschaft am Rande der Wüste und dieses Jahr Ziel des Marathon des 
        Sables.  Der letzte Kilometer geht über Asphalt, welch ungewohntes 
        Gefühl nach 245 km Sand, Geröll, Stein und Dünen! Viel Jubel, die ganze 
        Ortschaft steht am Straßenrand um die Heimkehrer auf ihren letzten 
        Schritten zu begleiten. Der Zielbogen, ich ziehe das Tempo an, reiße die 
        Arme in die Höhe, ein Lächeln für die lokale Presse, Patrick Bauer mit 
        der Medaille. Die Krankenschwester der Doc Trotters sieht mich an, „Are 
        you OK?“ „Ja, mir geht es gut. Eine Frage noch: Wie viele Salztabletten 
        muss ich pro Wasserflasche nehmen?“  Fassungslos starrt sie mich 
        an. 
  
        
         
        Nun? - Würde ich den Marathon des Sables noch einmal laufen? 
         
        In 2006 hätte ich die Frage verneint, jetzt bin ich vorsichtig 
        geworden: sag niemals nie. Aber ich bräuchte einen guten Grund für eine 
        weitere Teilnahme. Für 2008 hatte ich ihn, die Bestätigung meiner 
        Ernährungs- und Lebensführung.   
        
            Ihr naht euch 
        wieder, schwankende Gestalten, 
            Die früh sich einst dem trüben Blick gezeigt. 
            Versuch‘ ich wohl, euch diesmal festzuhalten? 
            Fühl‘ ich mein Herz noch jenem Wahn geneigt? 
            
        (Faust, 1, Zueignung) 
         
        Die Kombination aus geistiger Herausforderung (Goethes Faust), 
        seelischem Glück (späte Beethoven-Streichquartette, Bach 
        Goldberg-Variationen) und körperlicher Verausgabung war einzigartig, 
        nicht zu wiederholen, es wäre eine Kopie.  Die Hoffnung auf wieder 
        erlebte frühere Empfindungen bei einer Neuauflage würde eher 
        Enttäuschung weichen.  Goethes schwankende Gestalten, sie würden sich 
        dem trüben Blick kaum ein drittes Mal zeigen. Jetzt gehöre ich meiner 
        lieben Frau und Familie, die mich lange genug haben entbehren 
        müssen. Der nächste Urlaub wird aus Strand, Sonne und Vollpension statt 
        Sand, Sonne und Vollwertkost bestehen. „Und Du, Andreas?“ Die Worte 
        meines treuen Freundes Albert vom Jahr zuvor klingen mir in den Ohren. 
        Neue Ziele, neue Horizonte locken. Mein Geist sehnt sich nach Faust II 
        und Kants Kritik der Urteilskraft, antiquarische, in Fraktur gesetzte 
        Ausgaben beider Werke warten meiner im Bücherregal. Mein Herz wünscht 
        sich eine erneute Beschäftigung mit den sechs Streichquartetten von Béla 
        Bartók, die ich mir mit 14 Jahren im Musikinternat von Interlochen, 
        Michigan, erstmalig erschloss. Und mein Körper? Ich gönne ihm eine 
        Verschnaufpause, entscheide mich zu einem späteren Zeitpunkt. Es gäbe da 
        einen Lauf durch die Atacama-Wüste, einen anderen durch Libyen… Doch 
        noch wiege ich mich in Erinnerungen an Schönheit der Sahara, Bilder die 
        im Strudel der Zeiten verblassen mögen und doch realer, wirklicher 
        werden. Wie Heinrich Spörl sagte, „wahr sind die Erinnerungen, die wir 
        mit uns tragen: die Träume, die wir spinnen, und die Sehnsüchte, die uns 
        treiben. Damit wollen wir uns bescheiden“.  
        
            Und mich ergreift 
        ein längst entwöhntes Sehnen 
            Nach jenem stillen, ernsten Geisterreich; 
            Es schwebet nun in unbestimmten Tönen 
            Mein lispelnd Lied, der Äolsharfe gleich; 
            Ein Schauer fasst mich, Träne folgt den Tränen, 
            Das strenge Herz, es fühlt sich mild und weich 
            Was ich besitze, seh‘ ich wie im Weiten, 
            Und was verschwand, wird mir zu Wirklichkeiten. 
            
        (Faust, 25, Zueignung) 
         
        Andreas Dörfler 
        London, April 2008 
        Erwin: "Ein Bericht aus der Seele 
        der Wüste"  
         
  
        
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