Mit Körper, Geist und Seele
beim Marathon des Sables 2008
Zueignung
Ihr naht euch wieder, schwankende Gestalten,
Die früh sich einst dem trüben Blick gezeigt.
Versuch‘ ich wohl, euch diesmal festzuhalten?
Fühl‘ ich mein Herz noch jenem Wahn geneigt?
(Faust, 1, Zueignung)
Faust und Mephisto wären die ständigen Begleiter. „Und Du, Andreas?“
Mein treuer Freund Albert schaut mir fragend in die Augen nach einem
Abendessen in der Sankt Emmeransmühle bei München im Sommer 2007. Die
Schatten schwankender Gestalten beim Marathon des Sables 2006 steigen in
mir auf. Acht Tage, erst laufen, dann gehen, wandern, schließlich
schwanken, manch einer aufgebend. Hitze, Sand, Durst und Schmerzen, aber
auch unbeschreibliche Schönheit der Wüste, echte Kameradschaft im Team,
Einblick in die Tiefe des eigenen Ich und das strahlende Glück im Ziel.
Zwei
Seelen wohnen, ach, in meiner Brust
(Faust, 1112,
Studierzimmer)
Wie ein Film ziehen Bilder vom Marathon des Sables an mir vorbei - Sand
überall, im Essen, den Schuhen, den Augen; ekstatische Freude beim
Durchwandern der Sahara bei Vollmond mit Blick jenseits der Milchstraße;
Dehydrierung, blutige Füße und Magenkrämpfe. Abenteuerlust wie Lawrence
von Arabien am Lagerfeuer Geschichten erzählen. Noch einmal dabei sein
beim schwersten Ultramarathon - 230 km und mehr durch Geröll, Sand,
Fels, Dünen und Salzseen - noch einmal dabei sein, oder nicht sein? Das
ist die Frage. Was wäre anders als beim Start 2 Jahre zuvor? Natürlich
wäre es die Erfahrung, die vielen Fehler damals bei Training,
Ausrüstung, Ernährung, Gesundheit, Kleidung. Aber wichtiger noch, ich
hatte seitdem meinen Lebensstil gewandelt und diesen könnte ich auf die
Probe stellen: Kein gelegentliches Pfeife rauchen, Verzicht auf Alkohol
und die Umstellung auf vegane Ernährung. Die Folgen für Gesundheit,
Wohlgefühl und Leistungsfähigkeit waren frappierend. Neun Monate Zeit
der Vorbereitung bis zum Start. Zeit für eine Neugeburt. Wie würde ich
sie nützen? Bergmarathon in England mit 4.000 Höhenmetern;
24-Stundenlauf;
Thames Meander mit 90 km, dazu einige normale Marathons und Ultras,
das muss neben Beruf und Familie ausreichen. „Und Du, Andreas?“
Geist und Körper bilden eine Einheit. Neben Trainingsläufen will der
Kopf auf die Ausdauerleistung vorbereitet sein. Mich hält derzeit
Goethes Faust in Atem. So begleiten mich Quadflieg und Gründgens auf
meinem Musikspieler bei Trainingsläufen und eine ledergebundene
Druckausgabe von 1876 auf meinen Geschäftsreisen. Ausreichend geistige
Vorbereitung auf dieses Mammut-Vorhaben? In 2006 waren es Schriften des
Stoikers Seneca, die mich durch Einsamkeit und Schmerzen der Wüste
begleiteten. Mens sana in corpore sano sind
nur 2/3 der Medaille, fehlt die Seele! Für sie würde eine kleine
Hausapotheke aus Beethovens Streichquartetten, Bach, Tschaikowsky und
Smetana sorgen. Für innere Harmonie aus Körper, Geist und Seele wäre
somit gesorgt. Wie würde ich es meiner Familie erklären? Meine Frau
Uschi wäre nicht begeistert, schließlich hatte sie in 2006 nicht nur
mitgehofft sondern sich auch Sorgen gemacht. Dann müsste ich Urlaub
nehmen, Tage, die ich lieber mit meiner Familie verbringen wollte. Der
Trainings- und Vorbereitungsaufwand, Suche nach Sponsoren für eine
Wohltätigkeitssammlung. Wie würde ich mich durch die Wintermonate zum
Training bei Regen und Wind motivieren? Schließlich, wie würde ich im
Falle des Falles mit einem Scheitern beim Marathon des Sables umgehen?
Fragen, wie wankende Gestalten geistern sie durch Tag- und Nachtträume.
„Und Du, Andreas?“ Der treue Freund Albert mit fragendem Blick nach
einem Abendessen im Sommer 2007.
Die Wette biet‘
ich!
Top!
Und Schlag auf Schlag!
(Faust, 1698,
Studierzimmer)
Fast möchte ich
mit Schiller antworten: "Faust,
Mephisto, ich sei, gewährt mir die Bitte, in Eurem Bunde der Dritte!"
„Es
sei!“
Stürzen wir uns in das
Rauschen der Zeit,
Ins Rollen der Begebenheit!
Da mag denn Schmerz und Genuss,
Gelingen und Verdruss
Miteinander wechseln, wie es kann;
Nur rastlos betätigt sich der Mann
(Faust, 1754,
Studierzimmer)
Der Marathon des Sables
Der Marathon des Sables gilt als der schwerste Etappen-Ultramarathon der
Welt. Natürlich sieht das jeder Läufer anders und es gibt auf dem Markt
der Extremläufe eine wachsende Anzahl anspruchsvoller
Konkurrenzveranstaltungen, beispielsweise das
Atacama Crossing
(250 km) oder die Libyan
Challenge (190 km non-stop). Was den Marathon des Sables
auszeichnet, sind rund 230 km Distanz in 6 Etappen. Austragungsort ist
die marokkanische Sahara mit Temperaturen bis 55°C, kein Schatten,
Sandstürme. Laufuntergrund ist Sand, Geröll, Stein, Fels, und wieder
Sand, Sand, Sand. Die Organisation stellt lediglich Wasser (9 Liter pro
Tag und Teilnehmer), einfachste Berberzelte aus zusammengenähten
Kaffeesäcken und dünne Teppiche. Die gesamte Verpflegung für die Woche,
Kleidung, Schlafsack, Isomatte und Pflichtgegenstände sind vom
Teilnehmer zu tragen. Am Start sind das mit Wasserflasche gut 9 kg, im
Ziel nur noch 4 - 5 kg.
Das Abenteuer beginnt beim Abflug in London. Als einer der ersten
Passagiere verlasse ich am Tag der Eröffnung das neue Terminal 5 von
Heathrow Airport. Ich habe großes Glück, mein Gepäck wird befördert.
Anderen Läufern geht es wie 40.000 weiteren Passagieren, deren Gepäck in
den Katakomben von T5 für Tage verschwindet. Glück gehabt. Von London
nach Frankfurt, Umsteigen auf die Royal Air Maroc nach Casablanca, 6
Stunden Aufenthalt, Weiterflug nach Ouarzazate, einige Stunden Schlaf im
Hotel La Gazelle, dann im Bus über die Ausläufer des Atlas nach Merzouga
zum Fuße einer der höchsten Dünengebiete Afrikas. Nach 2 Tagen Anreise
endlich in der Sahara!
Gesundheitskontrolle
Wer antizyklisch durch sein Leben zu gehen versteht, hat Vorteile beim
Marathon des Sables. Wo sich 800 Läufer durch Flugsteige, Buffets,
Checkpoints, Wasserausgaben, Ärztezelte und Kontrollen drängen, bilden
sich Schlangen. Man kann anstehen und warten, meist bei Hitze und Sonne,
oder dem Ansturm der Läufer im Schatten entgehen und abwarten. Bereits
bei der Material- und Gesundheitskontrolle: jeweils zur vollen Stunde
werden 100 Läufer zum Kontrollzelt bestellt - zum Schlange stehen. 50
Minuten darauf ist die Schlange weg, 10 Minuten später wieder 100 Läufer
lang. Ein Schauspiel, das ich vom Schatten meines Berberzeltes 3 Stunden
lang beobachte. Acht Minuten vor meiner offiziellen Zeit gehe ich zur
Kontrolle, Pass vorzeigen, Koffer abgeben, Signalrakete entgegen nehmen,
Wasser- und Gesundheitskarte, Materialkontrolle, alles innerhalb von 4
Minuten. Beim Gesundheitscheck durch die Krankenschwestern der
Doc Trotters bekomme ich ein
Säckchen mit etwa 50 weißen Pillen ausgehändigt. „Das sind
Salztabletten. Bitte 3 Tabletten pro 1,5 l Wasserflasche einnehmen!“
„Drei?“ „Drei! Ihr erster Marathon des Sables?“ „Mein
zweiter.“ „Irgendwelche Fragen?“ „Nein.“ „Viel Glück!“ - Beim Verlassen
des Zelts, der Vorgang hat keine 10 Minuten gedauert, brutzeln 99 Läufer
in der Sonne, aufgereiht wie auf einer Perlenkette, vor dem
Kontrollzelt. Es ist 11:02 Uhr. Um 17 Uhr die offizielle Begrüßung in
der Mitte des Biwaks einfacher Berberzelte, je 8 Läufer pro Zelt.
Älteste Teilnehmerin aus Japan ist über 70 Jahre, sie wird den Lauf
leider nicht beenden, der Jüngste ist 18 aus Italien. Die lange Etappe
ist Bernard Julé gewidmet, der in 2007 nach dieser Etappe verstarb.
19 Uhr Wasserausgabe. 799 Läufer reihen sich auf, ein Engländer hätte
seine Freude an der wohlgeordneten Queue. Ich richte meinen Schlafsack,
sortiere die letzten Dinge für die morgige Dünenetappe und spaziere um
zehn vor acht zur Wasserausgabe. Keine Schlange, antizyklisch eben.
Zeit genug für einen Smalltalk mit den Französinnen.
Mein Rucksack
„Reduce to the max“ muss die Devise für den Marathon des Sables lauten,
so wenig wie nur irgend möglich mitnehmen, aber nichts vergessen. Es
gibt keine ideale Packliste. Jeder Läufer muss selber einschätzen, was
er benötigt, was er an Nahrung braucht, wo er einsparen kann. Das
größte Gewicht nimmt naturgemäß das Essen ein. 2.000 Kalorien pro Tag
sind Pflicht, mehr ist anzuraten. Mein tägliches Menü besteht aus 200 g
Müsli, 400 g Nüssen, 200 g Fruchtzucker, den ich á 50 g abgepackt in
einer 1,5 l Wasserflasche auflöse, Vitamintabletten und ein Travelunch
Fertigessen für den Abend. Das habe ich über mehrere Tage und längere
Läufe getestet und kann damit gut leben. Der hohe Anteil kalorienreicher
Nüsse ist nicht jedermanns Sache und sollte wohl überlegt und
ausreichend getestet sein.
Grau, teurer
Freund, ist alle Theorie
Und grün des Lebens goldner Baum
(Faust, 2038,
Studierzimmer)
Auch bei der Kleidung geize ich mit Gewicht und Volumen meines
Rucksacks: Ich laufe in Kurz-Tight und eng anliegendem T-Shirt (beide
schwarz). Für die Nacht führe ich eine lange Tight und ein langärmliges
Laufhemd mit, dazu ein Paar Ersatzsocken und Unterwäsche. Meine
schwarze Mütze mit dem professionell von meiner lieben Frau genähten
Nackenschutz komplettieren die Kleidung. Der Rest sind Luxus (ein altes
Bändchen Faust, ein Musikspieler, Sonnencreme) beziehungsweise
Pflichtgegenstände wie Stirnlampe, Ersatzbatterien, Feuerzeug, etc.
Wichtigster Teil meines Rucksacks ist die Brusttasche. Hier führe ich
meine 1,5 l Wasserflasche und alles mit, das ich während der Tagesetappe
benötige: Fruchtzucker, Nüsse, Sandsturmbrille. Die Brusttasche bildet
ein Gegengewicht zum Rucksack und erlaubt ein aufrechtes Laufen.
Erste Etappe - 31 km
Die Webseite hatte es einige Tage zuvor verraten, es sollte mit
245 km der längste Marathon des Sables seiner 23-jährigen Geschichte
werden. Nach subjektiver Meinung etlicher Veteranen würde es auch die
schwierigste erste Etappe sein. 14,7 km durch Afrikas Riesendünen bei
Merzouga bis zur ersten Wasserausgabe, zum Ziel hin weitere Dünen. Schon
so früh wollte Patrick Bauer das Feld auseinander reißen. Ob der 2007er
Marathon des Sables zu einfach war? Morgens täglich das gleiche
Ritual. Mit den ersten Sonnenstrahlen rückt die Berber-Kompanie aus,
reißt die dürftigen Zeltplanen ab, rollt die löchrigen Teppiche
zusammen. Ab 6 Uhr 30 sitzt man im Sand, eingehüllt in Schlafsack,
löffelt Haferflocken mit Wasser, richtet Kleidung und Rucksack, ein
letzter Blick ins Road Book über die Schönheiten und Tücken der
Strecke. 7 Uhr Wasserausgabe, ich gehe gegen 6:55 Uhr oder 7:50. Ab
8:30 Uhr Sammeln an der Startlinie, ich mache mich erst um 8:50 Uhr auf,
antizyklisch eben, 8:55 Uhr unsere Morgenandacht: „Drei Salztabletten
pro Wasserflasche“, ein Happy Birthday für die Geburtstagskinder, einige
Worte zur Streckenführung und Zielschlußzeit. Dann der Countdown, ein
„Go!“, der Helikopter der Eurosport-Journalisten knattert wie eine Salve
Maschinengewehrfeuer über unseren Köpfen, das Gedränge durch den
Startbogen. Es geht los. Wie jedes Jahr stürmen einige Hundert Läufer
vor als gäbe es nach 3000 Metern Freibier. Dort sitzen sie dann
frustriert im Meer haushoher Dünen, ringen nach Luft und lechzen nach
Wasser. Die ersten Läufer steigen bei Check Point 1 nach 14 km
aus. Trauriger Rekord. Das Laufen durch die Dünen ist beschwerlich. Die
Kraft des Fußabdrucks verpufft im Sand. Ich marschiere stattdessen mit
weniger Anstrengung und suche meinen Weg abseits der durchgetretenen
Piste der Vorläufer. Nach einer halben Stunde bemerke ich eine
französische Läuferin vor mir, rund 50 Meter rechts vom Hauptfeld der
Läufer sucht sie ihren Weg. Sie liest die Dünen mit ihrer weichen und
harten Seite präzise und bahnt sich einen guten Weg. Kraft sparend komme
ich rasch voran, halte rund 100 m Abstand, um eventuelle Fehler
abzufangen und sicherzustellen, sie nicht überholen zu müssen. Sie macht
ihre Führungsarbeit ausgezeichnet, während sich der Läufertross im
Gänsemarsch langsam durch den aufgewühlten Sand quält. Antizyklisch. Mit
2,2 l Wasser bin ich morgens gestartet. Der erste Check Point kommt in
Sicht am Ende der Merzouga-Dünen, mir verbleiben noch 0,7 l. Ich gönne
mir den Luxus meine schwarze Mütze, Gesicht und Nacken zu
befeuchten. Bis zum Check Point ist das Wasser aufgebraucht. An jedem
Check Point das gleiche Spiel: Chipkarte an das Lesegerät halten, das
ist eine Neuerung in 2008, Wasserkarte abknipsen lassen, Wasserflasche
entgegen nehmen. Dann der strenge Blick der Krankenschwester der Doc
Trotters: „Three salt tablets per bottle of water“, drei Salztabletten
pro Flasche. „Are you OK?“ Glücklich wie ein Kind im Sandkasten. Mein
Grinsen springt über, wird mit einem sympathischen Lächeln belohnt. Der
Sandsturm der Nacht zuvor hatte sich morgens gelegt, es ist windstill
und heiß, heute nur 45° in der Spitze. Bis zum Check Point 2 geht es
über flachen, steinigen Grund. Jetzt kann ich endlich laufen nach dem
Marsch durch das Dünenmeer, der feste Grund gibt guten Halt. Meine
Schulter schmerzt, dann mein Rücken. 7 kg wog mein Rucksack (plus
Kleidung) am Start, dazu 1,5 l Wasser und meine eiserne Reserve von
0,7 l am Rucksack. Das zehrt, aber täglich sollte es weniger werden. Ab
Check Point 2 wieder Dünen. Sie sehen so harmlos aus. Man sieht stets
nur eine und denkt sich Kinderspiel. Auf dem Kamm der Düne der Blick auf
die nächste, höhere. Gut, eine noch. Oben angelangt, freie Sicht auf
die dritte, höhere. So geht das weiter. Nach einem Dutzend Dünen der
Blick auf das Biwak. Ich bin der dritte in unserem Zelt Nummer 67,
Sharon Gayter, seit 12 Jahren englische Meisterin im 24-Stunden- und
100-km-Lauf ist schon da, gefolgt von Paul. Die Reihenfolge sollte sich
an den kommenden beiden Tagen wiederholen. Erst später treffen Steve,
Gavin und Colin ein, drei tapfere Krieger. Im Zelt versorge ich meine
Füße, koche Wasser auf für mein Fertigessen, Tofu mit Kartoffeln und
Gemüse. Dämmerung, Dunkelheit, Kälte der Nacht. Ich liege in meinem
Schlafsack, lese im Schein meiner Stirnlampe einige Seiten Goethes
Faust.
Die Sonne tönt nach alter Weise
In Brudersphären Wettgesang,
Und ihre vorgeschriebne Reise
Vollendet sie mit Donnergang.
Ihr Anblick gibt den Engeln Stärke,
Wenn keiner sie ergründen mag;
Die unbegreiflich hohen Werke
Sind herrlich wie am ersten Tag
(Faust, 243,
Prolog im Himmel)
Über mir der sternklare Wüstenhimmel, Planeten, Milchstraße,
Sternzeichen, ein Blick ins Jenseits menschlicher Vorstellungskraft.
Ein demütiger, einsamer Moment und Abschluss des ersten Tages.
Das Leben im Biwak
Sechs bis acht Läufer teilen sich eines der über 100 schwarzen Zelte
im Biwak des Marathon des Sables. Das Zelt besteht aus einer Plane, die
mit Eisenhaken in der Erde verankert wird. Stöcke dienen als
Zeltstangen. Zwei Seiten sind offen und lassen den kühlenden Wind
durch. Bei Sandsturm können die Seiten geschlossen werden, mit dem
Risiko, dass bei stärkerem Wind das Zelt zusammenbricht. Den Boden
bedecken zwei dünne rote Teppiche. Diese bieten zwar keine gute
Isolierung, ich empfand sie jedoch ausreichend und verzichtete auf eine
Isoliermatte; weitere 400 Gramm Gepäck eingespart. Früh morgens werden
die Zelte abgerissen, die Matten eingerollt, auf Lastwagen zum nächsten
Biwakplatz transportiert und von der Organisation aufgebaut. Die
Zeltkollegen bilden für die Woche des Marathon des Sables den
Familienersatz. Die Strapazen des Wettkampfs bringen alle positiven und
weniger angenehmen Seiten der menschlichen Persönlichkeit zum
Vorschein. Wählt man seine Zeltkollegen mit Menschenkenntnis oder hat
schlichtweg Glück, wie ich es hatte, mit einem großartigen Zelt #67,
dann ist der Teamgeist innerhalb des Zeltes eine große emotionale
Stütze. Im anderen Falle könnte Zwist und Disharmonie den Lauf zum
Höllenritt machen. Man lebt und schläft eng beieinander. Eventuelles
Schnarchen fällt nicht auf. Man ist nach jeder Etappe müde genug um
neben einem startenden Jumbojet einzuschlafen. Auch persönliche
Duftnoten der Zeltkollegen fallen nicht auf, hat man selbst seit Tagen
nicht geduscht und riecht entsprechend. Die Kollegen im Zelt sind erste
Anlaufstelle zum Teilen der Freuden und Leiden der täglichen Etappe. Man
tauscht Tipps aus zum Umgang mit wunden Füßen, der Sonne, dem
Standsturm. Es entwickelt sich eine Kultur von Tauschgeschäften „biete
Travelunch Pasta Napoli gegen zwei Rationen Müsli“, bei denen Geld
keinerlei Wert besitzt. Die gesamte Ökonomie beim Marathon des Sables
besteht aus dem, was man vom Start weg im Rucksack mit sich führt. Nach
Sonnenuntergang erhält jeder Läufer einen Ausdruck mit Emails, die im
Lauf des Tages für ihn eingehen. Dies ist ein besonderer Moment, man
liest sich gegenseitig die Nachrichten vor, so dass auch diejenigen sich
freuen die selber leer ausgingen. Für die menschlichen Bedürfnisse
werden einfachste Toilettenzelte außerhalb des Biwak errichtet. Da
Hygiene und Optik zu wünschen lassen, suchen sich viele Läufer ein
stilles Örtchen hinter einem Busch oder einer Düne. In den ersten Tagen
entfernt man sich dafür gerne 500 m vom Zelt, nach den ersten Blessuren
an den Füßen ab Etappe drei reichen für das kleine Geschäft auch schon
10 Meter. So reduziert sich das Leben im Biwak auf die elementarsten
menschlichen Bedürfnisse: Essen, Schlafen, Stoffwechsel, Bildung
sozialer Kleingruppen, Tauschgeschäfte. So ganz anders als unsere
komplexe hoch zivilisierte Gesellschaft.
Zweite Etappe - 38 km
6 Uhr Sonnenaufgang, 6:10 Uhr wird die Zeltplane abgerissen, 6:30 Uhr
die Teppiche eingerollt. Ein Morgen in der Sahara wie jeder andere.
Ich habe gut geschlafen, die Haferflocken mit Wasser schmecken (noch),
dazu drei Handvoll Nüsse. Ab 8:00 Uhr das offizielle Teilnehmerfoto zum
Marathon des Sables, aufgenommen vom Helikopter. Rory schwingt wie immer
seinen übergroßen Union Jack. Aufstellen an der Startlinie, Besprechung
der Etappe, „drei Salztabletten pro Wasserflasche“. Klar, man schwitzt
bis zu 9 l Wasser bei den einzelnen Etappen. Ohne Salzausgleich
dehydriert der Körper jämmerlich. Schon nach dem ersten Tag sieht mein
schwarzes Hemd wie gebleicht aus durch die Salzausscheidungen. Bis zum
Check Point 1 tue ich mich schwer, fühle mich unwohl. Ich weiß, das ist
bei mir normal, beim Laufen benötige ich zwei bis drei Stunden um auf
Betriebstemperatur zu kommen. Nach Check Point 1 bemerke ich einen
Läufer mit aufgenähter mexikanischer Fahne. „Hola Mexicano, ¿qué tál?“
Er heißt Antonio, freut sich über die Bekanntschaft eines
spanisch-kundigen Läufers. In seinem Zelt Nummer 13 sind fünf Mexikaner,
ich werde ihn dort mehrfach besuchen. Wir reden lange, tauschen
nicht-zitierfähige Witze aus, bis jeder wieder seinen eigenen Rhythmus
findet. Vor Check Point 2 ein ausgedehnter Salzsee, Temperaturen über
50°, wieder Schulter- und Rückenschmerzen. Ich trage erneut Sonnencreme
auf um Verbrennungen vorzubeugen. Ab Check Point 2 laufe ich hinter
einem japanischen Popsänger, der non-stop von einer 8-köpfigen TV-Crew
gefilmt wird. Armer Kerl, er tut mir leid, kann nicht einmal
unbeobachtet in die Büsche ohne halb Japan zu Gast zu haben. Hätte er
besser was Vernünftiges gelernt. Nachdem ich selbst für eine Stunde zum
Nebendarsteller in Japans Privat-TV wurde, wird mir der Rummel leid, ich
ziehe das Tempo an, Sayonara, finde meine Ruhe und genieße die
Einsamkeit der Langstrecke und Schönheit der Wüste. Check Point 3 liegt
auf einer kleinen Anhöhe vor einem Berg. Wassermarke abknipsen, „three
salt tablets per bottle of water“. Dahinter ein Dutzend Kinder, sie
strahlen und winken. Das motiviert, ich denke viel an meine lieben
Kinder Laura und Tobias und meine Frau Uschi, sie fehlen mir. Ein
großartiger Ausblick vom Berggipfel! Ich schieße Fotos von Antonio der
aufgeholt hat. Mit Schmerzen im Rücken geht es ins Biwak. Drei
Flaschen Wasser an der Ziellinie, ich weiß schon, drei Salztabletten pro
Flasche. Heute gibt es Nudeln mit Tomatensoße. Steve, Gavin und Colin
trudeln ein und sehen gar nicht gut aus. Blutige Füße, Blasen,
schmerzhafte Besuche in der Beauty Farm bei den Doc Trotters. Gut, dass
man die Schreie aus dem Medical Tent nicht bis ins Biwak hört. Ich
versuche mich einige Seiten in den Faust hineinzudenken, es gelingt mir
heute nicht.
O glaube mir, der manche tausend Jahre
An dieser harten Speise kaut,
Dass von der Wiege bis zur Bahre
Kein Mensch den alten Sauerteig verdaut!
Glaub‘ unsereinem, dieses Ganze
Ist nur für einen Gott gemacht!
Er findet sich in einem ew‘gen Glanze,
Uns hat er in die Finsternis gebracht,
Und euch taugt einzig Tag und Nacht.
(Faust, 1776,
Studierzimmer)
Schließlich schalte ich um auf Tschaikowskys Pathetique, bewundere den
Sternenhimmel, eine windarme Nacht, lausche in Ehrfurcht dem Genie des
Russen, der Tage vor seinem Ableben Herz, Seele und Todesahnung zu
dieser großartigen Musik formte. Keinem anderen als Bernstein gelingt
es, dies so erschütternd-bewegend in Klang zu setzen. Wo besser dies zu
fühlen, durchleben, aufgewühltes Durchleiden dieser Passion als in der
Schwärze der Nacht und Einsamkeit der Wüste nach Tagen der Anstrengung?
Schuhe
Wichtigstes Bekleidungsstück sind die Schuhe. Jeder Läufer hat andere
Füße, rollt beim Laufen anders ab. Sein persönliches, optimales
Laufschuh-Modell zu haben und einige Jahre Erfahrung damit über lange
Distanzen zu sammeln ist ideal. Für den Marathon des Sables muss es ein
Trailschuh sein, kein Wettkampfmodell. Die dicke Sohle des Trailschuhs
dämpft und schützt vor Dornen, die Stabilität verhindert ein Abknicken
beim Lauf durch Geröllfelder und scharfkantigen Fels. Da die Füße bei
Extrembelastungen anschwellen, sollten die Schuhe Übergröße haben.
Meine Schuhe sind drei Nummern größer als meine normalen Laufschuhe.
Den anfänglichen Leerraum im Schuh gleiche ich durch ein zweites Paar
Laufsocken aus. Dies hat Vorteile, muss aber vorab trainiert sein: Zum
einen wird der Fußschweiß besser abgeführt, eine der Ursachen für
Blasenbildung, zum zweiten ist es eine weitere Schutzschicht vor Sand
und natürlich eine Verbesserung der Dämpfung. Nach einigen Etappen
verzichte ich auf das zweite Paar Socken, die geschwollenen Füße
beanspruchen ihren Platz. Wichtigste Ergänzung für die Schuhe sind
Gamaschen, um den Sand möglichst lange aus den Schuhen fern zu
halten. Gute Erfahrung habe ich mit einem kommerziellen Modell gemacht,
welches per Klettverschluss an den Schuhsohlen befestigt wird. Leider
waren diese Gamaschen am vierten Tag zerschlissen, aber bis dahin
hielten sie effektiv den Sand ab. Mein Fehler war es, den
Klettverschluss vom Schuster nur mit Klebstoff anbringen zu lassen;
besser hätte ich das Klett-Band vom Sattler annähen lassen. Andere
Läufer schwören auf Damen-Nylonsocken, die über den Laufschuh gestreift
werden. Zwar halten diese maximal eine Etappe, sind aber federleicht und
effektiv. Andere stehen auf Stulpen Marke Eigenbau, mit Sekundenkleber
am Rand der Schuhsohle befestigt und mit elastischem Band an Knöchel
oder Kniebeuge befestigt. Auch im Umgang mit Blasen an den Füßen gibt es
so viele Therapien wie Läufer. Wer es luxuriös mag, geht am Ende der
Tagesetappe zur Beauty Farm der Doc Trotters und lässt sich ärztlich
versorgen. Andere ziehen es vor, Blasen unbehandelt zu lassen. Mein
Rezept ist: Blase mit einer Sicherheitsnadel aufstechen, ausdrücken, mit
Taschentuch trocknen, desinfizieren und an der Wüstenluft heilen
lassen.
Dritte Etappe - 40 km
Der sympathische Thomas vom Zelt 70 hat Knieschmerzen, trägt eine
Binde am Knie auf Anordnung der Doc Trotters, würde aber mutig durch die
Etappe kommen. Brigit, die stolze Wüstenkämpferin mit Wettkampferfahrung
aus den entlegensten Winkeln der Erde, klagt über starke Schmerzen im
Fuß, sollte heute leider ausscheiden aber nicht ihren ansteckenden Humor
verlieren. Je besser ich meine Mitläufer kennen lerne, desto mehr bin
von ihnen beeindruckt. Es sind nicht nur Ausnahmeathleten mit großem
Erfahrungsschatz im Langstreckenbereich, sondern auch herausragende
Persönlichkeiten die in ihren Familien wie am Arbeitsplatz mit der
gleichen Sorgfalt und Ausdauer ihren Weg gehen wie bei der Vorbereitung
auf den Marathon des Sables. Muss man verrückt sein um diesen Wettkampf
zu laufen? Meine Laufkollegen beweisen das Gegenteil. Wer mit beiden
Beiden fest im Leben steht kommt beim des Sables sicher ins Ziel. Es ist
erster April, so äffen alle Läufer bei der Morgenandacht die Bewegungen
der englischen Übersetzerin nach. Patrick Bauer ist irritiert bis er
den Spaß durchschaut. Start ist heute um 8:30 Uhr, nach Morgenandacht,
„drei Salztabletten“ und Happy Birthday. Wieder viel Sand, Dünen und
tolle Landschaft. Auf halbem Weg zum Check Point 1 überholt mich Paul.
Der Mann muss Nerven aus Draht haben, leidet er doch unter blutenden
Blasen an den Füßen. Auf halber Strecke zum Check Point 2 ein steiler
Anstieg mit großartiger Fernsicht. Dahinter wieder Dünen, der zweite
Check Point liegt versteckt. Patrick Bauer, seit 23 Jahren
Cheforganisator des Marathon des Sables, liebt solch ein Versteckspiel.
Ab jetzt sind meine Gamaschen verschlissen, die Schuhe werden zunehmend
sandiger. Ärgerlich, aber immerhin hielten sie länger als erhofft, und
die sandigsten Strecken liegen hinter uns. Ab dem dritten Check Point
wird der Boden fest. Heute macht das Laufen richtig Spaß, einen
Kilometer vor dem Zielbogen ziehe ich das Tempo an, sprinte ins Ziel.
Same procedure, drei Flaschen Wasser mit dem Hinweis auf die
Salztabletten, Wassermarke abgeknipst. Heute gibt es Couscous als
Fertigration, aufgebrüht mit heißem Wasser. Zur Verdauung einige Seiten
Faust. Ich drehe meine abendliche Runde durch die deutschsprachigen
Zelte. Der tapfere Thomas ist lustig wie immer, Dorothe in sich ruhend
und glücklich, Andree immer zu einem Scherz aufgelegt, Ralf lächelt
zufrieden, Tim ganz unser Lawrence von Arabien aber mit einem Schalk im
Nacken, und Jürgen erstaunt mich immer mehr mit seiner Durchhaltekraft
und Leichtigkeit. Alle sind sie gut im Rennen, Anna stets strahlend aus
ihrem Inneren Kraft schöpfend und aufrecht in perfekter
Alexanderhaltung. Dann kommt Steve ins Zelt mit neonfarbenem Armband,
ohne Startnummer. Der Arme musste auf der Strecke aufgeben,
Dehydrierung, vermutlich durch einen Virus. Colin gibt tags drauf vor
dem Start der 75-km-Etappe auf, blutige Füße. Paul wird auf dieser
Etappe nach Check Point 3 aus gleichem Grund aufgeben müssen. So
reduziert sich unser Zelt innerhalb von 24 Stunden von 6 auf 3
Teilnehmer. Einerseits schlägt das aufs Gemüt, andererseits ist es
Ansporn, die Ehre des Zelts 67 aufrecht zu halten. Sharon und ich, wir
freuen uns auf die morgige Monsteretappe. Beide lieben wir die
Langstrecke, 12 und mehr Stunden zu laufen liegt uns im Blut. Die Nacht
bricht ein, ein frischer Windhauch durch das Zelt, ein Funkeln am
Firmament. Faust drängt sich mir auf, gerne lasse ich ihn eine Stunde
gewähren, beruhigt er meine innere Anspannung vor der morgigen Strecke
und füllt mich mit Zuversicht.
Und steigt vor
meinem Blick der reine Mond
Besänftigend herüber: schweben mir
Von Felsenwänden, aus dem feuchten Busch
Der Vorwelt silberne Gestalten auf
Und lindern der Betrachtung strenge Lust.
(Faust, 3235, Wald und
Höhle)
Ernährung
Jeder Läufer muss seine Nahrungsmittel für die 7 Tage des Marathon des
Sables mitführen. Pflicht sind 2.000 Kalorien pro Tag. Natürlich ist
das ein Minimum. Bei den Etappen verbrennt man bis zu 8.000
Kalorien. Kein Läufer würde aber 8.000 Kalorien pro Tag an Nahrung
mitführen. Bei der Zusammenstellung des Speiseplans ist wichtig, neben
Kalorien auch auf Proteine, Vitamine und Mineralien zu achten.
Natürlich sollte man alles vorab auf längeren Läufen auf Verträglichkeit
getestet haben. Nicht zu unterschätzen auch der emotionale Wert eines
Nahrungsmittels: Der Gedanke, sich abends mit einer besonderen Leckerei
belohnen zu können kann während der Etappe Berge versetzen. Seit über
einem Jahr ernähre ich mich vegan, kein Fleisch, Fisch, Meeresfrüchte,
keine Milch oder Milchprodukte, keine Eier. Kurz, keine von Tieren
abstammenden Lebensmittel.
Dich zu verjüngen
gibt's auch ein natürlich Mittel;
Allein es steht in einem andern Buch
Und ist ein wunderlich Kapitel.
Gut! Ein Mittel, ohne Geld
Und Arzt und Zauberei zu haben:
Begib dich gleich hinaus aufs Feld,
Fang an zu hacken und zu graben,
Erhalte dich und deinen Sinn
In einem ganz beschränkten Kreise,
Ernähre dich mit ungemischter Speise,
Leb‘ mit dem Vieh als Vieh, und acht‘ es nicht für Raub,
Den Acker, den du erntest, selbst zu düngen
(Faust, 2348,
Hexenküche)
Ursprünglich hatte ich meine vegane Ernährung als Selbstversuch
begonnen, angelegt auf 3 Monate, nachdem ich einiges darüber gelesen
hatte. Schon kurz nach meiner Umstellung war der Einfluss auf meine
Gesundheit und mein Laufen so frappierend positiv, dass ich kein
Verlangen verspüre wieder zu einer omnivoren Ernährung
zurückzukehren. Auf körperlichem Gebiet sind die Veränderungen bei mir:
Normalisierung der Hypertonie, Heilung meines Tinnitus im linken Ohr,
Gewichtsabnahme, verbesserte Ausdauer über lange Strecken, mehr
Schnelligkeit auf kurzen Strecken, deutlich bessere Regeneration nach
langen Trainingseinheiten, Linderung meiner Pollen-allergischen
Beschwerden. Auf geistig/emotionaler Ebene: besserer Schlaf, gesteigerte
geistige Energie und Konzentrationsfähigkeit, eine emotionale
Leichtigkeit und das gute Gefühl, keinem Tier für meinen Mittagstisch,
direkt oder indirekt, ein Leid zugeführt zu haben. Beim Marathon des
Sables bestand mein Frühstück aus Haferflocken mit Rosinen, dazu
Nüssen. Während der Etappe nahm ich Fruchtzucker und Nüsse zu mir,
abends dann ein veganes Fertigmenü und Nüsse. Zwei mal täglich eine
Vitamintablette, dazu die Salztabletten der Doc Trotters. Das wars. Für
mich hat es sich bewährt, aber jeder Läufer ist und isst anders. Hier
hilft nur die persönliche Erfahrung.
Vierte Etappe - 75 km
Morgenandacht, Salztabletten, Happy Birthday, 9 Uhr ist Start zu den
75 Kilometern. Die Streckenführung ist mir weitgehend aus 2006 bekannt,
nur in entgegen gesetzter Richtung. Nach rund 6 km ein langer, steiler,
geradezu alpiner Anstieg, Steinschlaggefahr! Sehr langsamer Aufstieg mit
schwierigen Kletterpartien, Seilführung an einigen Stellen. Das ist
mehr Bergtour als Laufveranstaltung. Großartige Sicht auf die Wüste von
ganz oben. Nach dem Abstieg Dünen bis zum ersten Check Point, einer der
schwierigsten Abschnitte des gesamten Wettkampfs. Bis zum Check Point 2
flach, steinig, schnell zu laufen. Ich erkenne vieles wieder, den
pyramidenförmigen Berg, das Schulgebäude, die schattige Schlucht. Unter
Palmen der Check Point 2, idyllisch gelegen, der erste Schatten seit 4
Tagen! Viele Läufer erquicken sich, sammeln Kraft für die nächste
Etappe, freundliches Gelächter allerorten, Leben, Kinder am Wegesrand.
Ich höre schon des Dorfs
Getümmel,
Hier ist des Volkes wahrer Himmel,
Zufrieden jauchzet groß und klein:
„Hier bin ich Mensch, hier darf ich's sein!“
(Faust, 937, Vor dem
Tor)
Am folgenden Salzsee und in den dahinter liegenden Felsen gab es 2006
die meisten Ausfälle. Jetzt merke ich, dass das Terrain sehr einfach
ist. Damals war es die hohe Luftfeuchtigkeit, die 180 Läufer zur
Aufgabe zwang. Eine englische Läuferin schied hier 2006 durch
Dehydrierung und Panikattacke aus, ich sah sie damals am Tropf der Doc
Trotters inmitten der Felsen. Bei einem Trainingsmarathon in 2007 nahe
Salisbury traf ich sie wieder, jetzt ihr zweiter Anlauf beim Marathon
des Sables. Sie würde diese lange Etappe und den Marathon des Sables
trotz Déjà Vu beenden, ein großartiger Sieg. Es sind dies die
Geschichten, die dem Marathon des Sables sein Gesicht geben, den Mythos
bilden. Hut ab vor dieser Frau. Der Sand verfärbt sich orange-rot, von
einem Felsplateau nach Check Point 3 ein Schauspiel für die Sinne! Eine
leicht abfallende, sandige und sehr schwer zu gehende Rampe bis zum
Check Point 4. Schulter und Nacken schmerzen wieder, in der Hitze des
Nachmittags springen meine Gedanken rastlos umher.
Der Schmerz wird neu, es
wiederholt die Klage
Des Lebens labyrinthisch irren Lauf
Und nennt die Guten, die, um schöne Stunden
Vom Glück getäuscht, vor mir hinweg geschwunden
(Faust, 13, Zueignung)
Die Sonne neigt sich am Check Point, ich bereite mich auf die Nacht vor,
lege Stirnlampe an und befestige mein Knicklicht am Rucksack. „Please,
three salt tablets for each bottle of water“. Schon gut, ich
weiß. Sonnenuntergang, kurze Dämmerung, dann umschließt mich die Nacht
und der klare Sternenhimmel der Sahara. Einer Heerschar Glühwürmchen
gleicht die Kette der Läufer, jeder mit einem grünlich schimmernden
Knicklicht irrend, tänzelnd durch die frostige Nacht, gleichsam auf dem
Wege zu Walpurgis´ Brocken.
Mir ist es winterlich im Leibe;
Ich wünschte Schnee und Frost auf meiner Bahn.
Wie traurig steigt die unvollkommne Scheibe
Des roten Monds mit später Glut heran
Und leuchtet schlecht, daß man bei jedem Schritte
Vor einen Baum, vor einen Felsen rennt!
Erlaub‘, dass ich ein Irrlicht bitte!
Dort seh‘ ich eins, das eben lustig brennt.
Heda! Mein Freund! Darf ich dich zu uns fordern?
Was willst du so vergebens lodern?
(Faust, 3849,
Walpurgisnacht)
Auf diesen Moment habe ich mich ein Jahr lang gefreut! Das Läuferfeld
ist auseinander gezogen, ich laufe allein und schnell, als sich die
Augen an die Stirnlampe gewöhnen. Jetzt schalte ich mein Musikgerät ein
und genieße Beethovens späte Streichquartette Op 127, 130 und 131 mit
dem Emerson String Quartet. Welch himmlischer Genuss, die Cavatina aus
Op 130 so schön, nicht aus dieser Welt! Es bedarf schon eines tauben,
greisen Genies solche Klänge aus höheren Sphären in irdische Niederungen
zu ziehen. Allein, in einem der entlegensten Winkel der Erde, im Antlitz
der Gestirne in rascher Bewegung mich auf das Werk eines der größten
Denker und Schöpfer zu konzentrieren.
Werd‘ ich zum
Augenblicke sagen:
Verweile doch! Du bist so schön!
Dann magst du mich in Fesseln schlagen,
Dann will ich gern zugrunde gehn!
(Faust, 1699,
Studierzimmer)
Ein zerbrochenes Stück Wirbelknochen, vermutlich von einem Dromedar,
leuchtet auf im Schein meiner Lampe. Ich lese es auf, als Symbolon soll
es mich an diesen Augenblick erinnern. Die andere Hälfte des Wirbels mag
noch in der Sahara ruhen. Passend, gerade die Rückenschmerzen sind das
Problem, mit dem ich während des Marathon des Sables zu kämpfen
hatte. Mit dem Ersatzteil an Bord bin ich gerüstet; mit dieser
Nachtetappe sind alle Schmerzen getilgt. Am Check Point 5: „three
tablets, I know“ lehne ich das Wasser ab, ich habe noch ausreichend und
laufe ohne Unterbrechung weiter. Bei Check Point 6 das gleiche, jetzt zu
den Klängen der Goldberg-Variationen, gespielt von András Schiff. Ich
schwimme im höchsten Glück, so sehnt es mich eines Tages aus der Welt zu
scheiden, unter sternklarem Firmament, Bach im Herzen, Goethe im Sinn,
mutig in die Dunkelheit schreitend. Punkt Mitternacht bin ich im Biwak.
Erschöpft falle ich in einen unruhigen Halbschlaf, mir fröstelt im
Schlafsack, der Körper hat kaum Kraftreserven, der Geist ist leer, die
Seele löst sich vom Zauber der Nachtetappe.
Wolkenflor und Nebelflor
Erhellen sich von oben.
Luft im Laub und Wind im Rohr,
Und alles ist zerstoben.
(Faust, 4395,
Walpurgisnachtstraum)
Charity
Kaum ein Läufer unternimmt ein solches Unterfangen für sich allein. Der
Marathon des Sables erfordert eine sorgfältige Vorbereitung, Training,
Zusammenstellung des Materials. Kaum jemand, der für sich alleine diese
Strecke auf sich nimmt. Durch die harschen Bedingungen der Sahara formt
sich ein starkes Band innerhalb der Läuferschaft, eine Kameradschaft,
Freundschaften für das Leben, wie ich sie bei den Familien der SOS
Kinderdörfer erleben konnte: Einem an Dehydrierung oder Blindheit in
Folge eines Sandsturms leidenden Mitläufer zu helfen, ist eine
Selbstverständlichkeit, selbst wenn das Zeitverlust oder gar
Disqualifikation bedeuten könnte. Über Stunden alleine durch die Wüste
zu laufen, geleitet durch Kompassnadel und Stand der Sonne ist eine
Pilgerschaft ins Zentrum der eigenen Seele. Bar fast jeder Form
irdischer Werte außer etwas Essen und einiger Kleidungsstücke, es
erinnert mich an den Zustand vieler verwaister Kinder, wie sie während
der Bürgerkriegswirren Anfang der 1980‘er Jahre in den dortigen SOS
Kinderdörfern ankamen, in der Hoffnung auf warmherzige Aufnahme. Die
Erfahrung von Schmerz, Dehydrierung, Halluzinationen oder gar Ohnmacht
konfrontieren den Läufer mit seinen körperlichen und mentalen Grenzen
und zwingen ihn zur Auseinandersetzung mit der eigenen irdischen
Vergänglichkeit. In vergangenen Jahren gab es einige Notfälle, auch
wenn die medizinische Versorgung der Veranstaltung exzellent und auf
neuestem Stand der Technik ist. Meine großartigste Erfahrung beim
Marathon des Sables in 2006 war die Nachtetappe. Unter dem einzigartigen
Sternenhimmel und bei Vollmond schaltete ich meine Stirnlampe aus und
lief zu den Klängen von Tschaikowskys Pathétique-Symphonie in eine
andere Welt hinein: Plötzlich vergaß ich Schmerzen und blutende Blasen,
Erinnerungen aus meiner Kindheit in El Salvador zogen vor meinem
geistigen Auge vorüber und ich wusste, ich müsste den Marathon des
Sables wiederholen, zu Gunsten der SOS Kinderdörfer. Der Marathon des
Sables ist nicht nur einer der schwersten Ultramarathons, er ist auch
eine emotionale Reise die den empfindsamen Teilnehmer im Innersten
berührt. Kein Läufer ist nach dem Lauf der gleiche, kein Läufer
unternimmt ein solches Unterfangen für sich allein. Ich widme meinen
Marathon des Sables 2008 den mutigen Kindern und Familien der SOS
Kinderdörfer und lade jeden sehr herzlich ein, die SOS Kinderdörfer zu
unterstützen. 100% der unter
www.justgiving.com/adoerfler eingehenden Spenden fließen an die SOS
Kinderdörfer, ich habe keinerlei finanziellen oder sonstigen Vorteil an
dieser Sammlung.
Ruhetag
36 Stunden werden jedem Läufer für die 75-km-Etappe zugestanden. Wer die
Strecke an einem Tag schafft, hat 1 Tag Pause. Viele Läufer übernachten
auf halber Strecke und kommen während des 2. Tages über die Ziellinie.
Nach sehr unruhigem Schlaf erwache ich mit dem anbrechenden Tag. Zum
Frühstück gibt es Couscous mit Gemüse und heißen Tee, ein Genuss in der
bescheidenen Einfachheit des Berberzelts. Den freien Tag nutze ich, um
mir die verbleibenden 2 Etappen im Road Book anzusehen und die
wichtigsten Entfernungen und Steigungen auswendig zu lernen. So kann ich
mir die beiden Läufe geistig einteilen und meinen Wasserverbrauch
einschätzen. Jetzt erfahre ich, dass leider auch Paul auf der langen
Etappe hat aufgeben müssen. Seine Füße sehen schlimm aus, er kann sich
nicht fortbewegen und wird von den Ärzten per Jeep die 200 Meter
zwischen Zelt und Essensausgabe gefahren. Er hat hart gekämpft, mehr als
jeder andere im Zelt, musste sich aber seinen Verletzungen geschlagen
geben. Das Sandblaster-Team ist von 4 auf 1 Läufer geschrumpft. Auf
Gavin, der gegen 2 Uhr nachmittags im Biwak eintrifft ruhen jetzt die
Hoffnungen von Steve, Paul und Colin. Dann lese ich meinen Faust zu
Ende, das tragische Finale mit dem Tod von Gretchens Bruder, Mutter und
Kind. Stoff genug, um mich einige Stunden lang in Gedanken zu hüllen.
Die Dramatik des Faust verwebt sich mit meiner Betroffenheit über das
Ausscheiden meiner 3 Zeltkameraden. Gegen 16 Uhr wird die Ankunft der
letzten beiden Läufer im Biwak gemeldet. Fast alle Läufer strömen, nein,
humpeln, zur Ziellinie, um die beiden mit großem Bravo und Applaus auf
ihren letzten Metern anzufeuern. Ein wirklich bewegender
Augenblick! Natürlich sind die Leistungen der Spitzenläufer großartig,
aber was den Zauber des Marathon des Sables wirklich ausmacht, das ist
der Zusammenhalt der Läufer untereinander, vom schnellsten bis zum
langsamsten. Keiner wird alleine gelassen, hier lebt noch der wahre
olympische Geist.
Fünfte Etappe - 42 km
Nach einer weiteren ruhelosen Nacht wache ich gerädert auf. Es ist
sehr warm, schlechte Vorzeichen für die Tagestemperaturen, die über 50°
erreichen sollten. Eine Doppelration Müsli, Morgenandacht, „drei
Salztabletten pro Wasserflasche“, Happy Birthday, los geht's. Bis zum
ersten Check Point ist die Strecke flach und einfach zu laufen.
Mehrfach überhole ich Bridge, die älteste Teilnehmerin aus England, dann
holt sie wieder auf, so sehen wir uns etwa alle Stunde. Hut ab vor
dieser eisernen Kondition. Ich erfahre, dass sie in Cornwall lebt und
dort auf dem Coastal Path trainiert. Perfektes Terrain zum Training für
den Marathon des Sables, viel Sand, Dünen, Steigungen. Nach dem Check
Point 1 zwei Erhebungen, die ich aus 2006 kenne. Beide erschienen mir
damals geradezu unüberwindbar, heute sind sie kinderleicht. Deutlich
wird, dass wir uns langsam aus der Wüste herausbewegen, man sieht
vermehrt Lehmbehausungen, Kinder stehen am Rand und grüßen höflich,
einige wenige aufdringlich bettelnd, die Mädchen immer zwei Duzend
Schritte von den Jungs entfernt. Dann der englische Läufer am Wegesrand,
frustriert sein Kopf zwischen den Knien, sein Army-Rucksack mit Union
Jacks übersät. „Come on, tough guy! Für Königin und Vaterland“ ruft ein
anderer ihm zu. Er: „Würde die Queen diesen Unfug für mich
laufen?“ Auch wenn er würzigere Worte wählte, der Punkt geht an ihn. Ab
dem 2. Check Point wird es heiß, sandig, langsam. Ich trage Sonnencreme
auf, jetzt ein Sonnenstich so spät im Rennen wäre schlimm. Dann Palmen,
eine kleine Oase, Ruinen, herrlich! Der 3. Check Point versteckt sich
hinter einem Palmenhain, fast hätte ich ihn übersehen, typischer
Patrick-Bauer-Humor. Eine Kolonne von einem guten Dutzend Jeeps,
Touristen mit Foto- und Videokameras auf Läufer-Safari. Sind wohl auf
die big five aus: Nashorn, Löwe, Elefant, Läufer, Leopard. Ich fühle
mich wie im Zoo, ich das Tier, im Jeep die Besucher. Fehlt nur, dass sie
uns Brotkrumen zuwerfen. Was sich die Touristen wohl denken mögen über
die Reihe irrsinniger, unrasierter und stinkender Wüstenläufer? Besser
nicht zu wissen. Bridge überholt mich 2 km vor dem Ziel, ich lasse sie
gerne vorbeiziehen, heute geht es schlecht, Dehydrierung, bin im Ziel
froh, angekommen zu sein. Kartoffeln mit Gemüse aus der Tüte nach über
zwei Litern Wasser. Erst zwei Stunden nach der Ankunft kann ich es
aufnehmen, vielleicht doch ein leichter Sonnenstich? Ich hatte tagsüber
nichts aufnehmen können außer meinem mit Maltose/Fruktose angereicherten
Wasser. Sharon kommt eine Stunde vor mir ins Biwak, Gavin wird es heute
auch schaffen. Paul wurde von den Doc Trotters in der Beauty Farm ohne
Narkose an den Fußsohlen operiert. Der Mann verdient höchsten Respekt
und die Patrik-Bauer-Tapferkeitsmedaille. Es ist der letzte Abend in der
Wüste. Gegen 18:30 Uhr gibt es ein Kammerorchesterkonzert, etwa 15
Musiker wurden aus Paris eingeflogen, um den Läufern einen besonderen
Genuss zu bieten. Viel Mozart auf dem Programm, nicht berauschend
gespielt, aber unter Wüstenbedingungen recht ordentlich. Ich unterhalte
mich mit einigen Musikern, die Cellistin hat bei Christoph Henkel in
Freiburg studiert, kleine Welt.
Der Vergleich
Der Marathon des Sables 2008 verlief für mich ganz anders als zwei Jahre
zuvor. Diesmal war es die großartige Erfahrung, das leichte zügige
Laufen, das ich mir für 2006 erhofft hatte. Was war anders? Was hatte
ich in 2006 gelernt und diesmal verbessert? Welche Faktoren spielten
noch mit? Wichtigster Unterschied war die Umstellung auf vegane
Ernährung. An zweiter Stelle etwas Glück: In 2006 gab es eine
Luftfeuchtigkeit von über 40%, für jeden Läufer Gefahr der
Dehydrierung. In 2008 waren es teilweise höhere Temperaturen, aber kaum
Feuchtigkeit. In 2006 trug ich wie die meisten MdS-Frischlinge weiße
Kleidung, in 2008 schwarz, den Veteranen und Touaregs
abgeschaut. Tatsächlich kühlt schwarze Kleidung weit besser als helle.
Für die Kalorienaufnahme während der Etappen hatte ich ausreichend
Fruchtzucker dabei, worauf ich in 2006 verzichtet hatte. Damals konnte
ich während des Laufs aufgrund der Anstrengung und Hitze nichts zu mir
nehmen, in 2008 war der im Wasser gelöste Fruchtzucker ideal. In 2008
achtete ich auf jedes Gramm bei der Zusammenstellung meiner Packliste
und verzichtete auf jeglichen Luxus - abgesehen von Goethes Faust,
Fotokamera und Musik-Spieler. Diesmal keine Isoliermatte, weniger
Kalorien, weniger Ersatzkleidung, kein zweites Paar Laufschuhe. Jeder
dieser Faktoren trug zum Erfolg in 2008 bei, doch schreibe ich den
Löwenanteil meiner veganen Ernährung und der daraus folgenden
Gesundheit, Regenerationsfähigkeit und Gewichtsabnahme zu.
Sechste Etappe - 17 km
Ausnahmsweise werden die Zelte heute nicht abgerissen, welch Luxus.
Kurz vor 9 Uhr die letzte Morgenandacht: „please remember to take three
salt tablets per bottle of water!“, leider noch 4 Läufer auf der
Marathonetappe ausgeschieden, insgesamt sind es 54. Bis zum Check Point
1 ist die Strecke flach und steinig. Dann kommt Tazzarine in Sicht, die
Ortschaft am Rande der Wüste und dieses Jahr Ziel des Marathon des
Sables. Der letzte Kilometer geht über Asphalt, welch ungewohntes
Gefühl nach 245 km Sand, Geröll, Stein und Dünen! Viel Jubel, die ganze
Ortschaft steht am Straßenrand um die Heimkehrer auf ihren letzten
Schritten zu begleiten. Der Zielbogen, ich ziehe das Tempo an, reiße die
Arme in die Höhe, ein Lächeln für die lokale Presse, Patrick Bauer mit
der Medaille. Die Krankenschwester der Doc Trotters sieht mich an, „Are
you OK?“ „Ja, mir geht es gut. Eine Frage noch: Wie viele Salztabletten
muss ich pro Wasserflasche nehmen?“ Fassungslos starrt sie mich
an.
Nun? - Würde ich den Marathon des Sables noch einmal laufen?
In 2006 hätte ich die Frage verneint, jetzt bin ich vorsichtig
geworden: sag niemals nie. Aber ich bräuchte einen guten Grund für eine
weitere Teilnahme. Für 2008 hatte ich ihn, die Bestätigung meiner
Ernährungs- und Lebensführung.
Ihr naht euch
wieder, schwankende Gestalten,
Die früh sich einst dem trüben Blick gezeigt.
Versuch‘ ich wohl, euch diesmal festzuhalten?
Fühl‘ ich mein Herz noch jenem Wahn geneigt?
(Faust, 1, Zueignung)
Die Kombination aus geistiger Herausforderung (Goethes Faust),
seelischem Glück (späte Beethoven-Streichquartette, Bach
Goldberg-Variationen) und körperlicher Verausgabung war einzigartig,
nicht zu wiederholen, es wäre eine Kopie. Die Hoffnung auf wieder
erlebte frühere Empfindungen bei einer Neuauflage würde eher
Enttäuschung weichen. Goethes schwankende Gestalten, sie würden sich
dem trüben Blick kaum ein drittes Mal zeigen. Jetzt gehöre ich meiner
lieben Frau und Familie, die mich lange genug haben entbehren
müssen. Der nächste Urlaub wird aus Strand, Sonne und Vollpension statt
Sand, Sonne und Vollwertkost bestehen. „Und Du, Andreas?“ Die Worte
meines treuen Freundes Albert vom Jahr zuvor klingen mir in den Ohren.
Neue Ziele, neue Horizonte locken. Mein Geist sehnt sich nach Faust II
und Kants Kritik der Urteilskraft, antiquarische, in Fraktur gesetzte
Ausgaben beider Werke warten meiner im Bücherregal. Mein Herz wünscht
sich eine erneute Beschäftigung mit den sechs Streichquartetten von Béla
Bartók, die ich mir mit 14 Jahren im Musikinternat von Interlochen,
Michigan, erstmalig erschloss. Und mein Körper? Ich gönne ihm eine
Verschnaufpause, entscheide mich zu einem späteren Zeitpunkt. Es gäbe da
einen Lauf durch die Atacama-Wüste, einen anderen durch Libyen… Doch
noch wiege ich mich in Erinnerungen an Schönheit der Sahara, Bilder die
im Strudel der Zeiten verblassen mögen und doch realer, wirklicher
werden. Wie Heinrich Spörl sagte, „wahr sind die Erinnerungen, die wir
mit uns tragen: die Träume, die wir spinnen, und die Sehnsüchte, die uns
treiben. Damit wollen wir uns bescheiden“.
Und mich ergreift
ein längst entwöhntes Sehnen
Nach jenem stillen, ernsten Geisterreich;
Es schwebet nun in unbestimmten Tönen
Mein lispelnd Lied, der Äolsharfe gleich;
Ein Schauer fasst mich, Träne folgt den Tränen,
Das strenge Herz, es fühlt sich mild und weich
Was ich besitze, seh‘ ich wie im Weiten,
Und was verschwand, wird mir zu Wirklichkeiten.
(Faust, 25, Zueignung)
Andreas Dörfler
London, April 2008
Erwin: "Ein Bericht aus der Seele
der Wüste"
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