Unser Lauf der Emotionen beginnt:
Jörg: „Die Schmerzen vergehen, der Stolz bleibt.“ Diese 6 Worte auf
einem großen Plakat irgendwo im letzten Drittel der Strecke bleiben mir
im Kopf. Jetzt direkt nach dem Lauf liege ich gerade im Bett. Neben mir
mein kleiner Sohn Timo. Zwischen uns eine mit heißem Wasser gefüllte
Trinkflasche, über uns 3 Daunendecken. Sehen so stolze Rennsteigläufer
aus??? - Egal. Timo flüstert ganz leise vor sich hin: „Wir zwei
sind GuthsMuths-Läufer“. Ich bringe gerade noch ein „Ja“ heraus. Und ob
wir nicht schon genug Regen hatten, läuft mir vor Freude eine Träne
runter. Das ist der Nachmittag danach. Doch nun der Reihe nach...
Manuela: Der 20. Mai rückte immer näher und die Vorfreude auf den
Rennsteiglauf wuchs von Tag zu Tag. Zusammen mit Jörg, den ich beim
Albmarathon 2005 kennen gelernt habe, will ich dieses Jahr die 73 km
anpacken. Ein reger E-Mail Austausch war entstanden, und Jörg schaffte
es immer wieder mich aufzumuntern, wenn ich Motivationsprobleme hatte.
Damit hatte ich während meiner Trainingsläufe häufig zu kämpfen und ich
befürchtete, dass dieses Jahr nicht meine Kondition sondern vielmehr die
Motivation eine entscheidende Rolle spielen würde.
Jörg: Am Morgen steige ich kurz nach halb vier nach einer schlafarmen
Nacht im Stadtcafe in Suhl in den Bus nach Eisenach. Ich freue mich auf
den Lauf und das Wiedersehen mit Manuela. Die letzten Tage waren schon
aufregend. Am Donnerstag plötzlich Halsschmerzen, Schnupfen und erhöhte
Temperatur. Mit Fieber würde ich nicht laufen, das war klar. Die
Horrornachricht für Timo, der sich so sehr auf den Junior-Cross freute.
Angst, aber auch ein großes Mitgefühl machen sich bei ihm breit. „Ich
male dir ein schönes Bild und wenn dich der Rennarzt nicht laufen lässt,
dann schenke ich dir meine Medaille.“ Ich nahm mir vor schnell gesund zu
werden.
Manuela: Der Start-Tag: dieser Samstagmorgen beginnt viel versprechend.
Es ist trocken und ich hoffe, dass uns das gute Wetter auch die nächsten
Stunden erhalten bleiben wird. Ich freue mich riesig darauf, Jörg wieder
zu sehen. Er ist bester Dinge, obwohl er wenige Tage zuvor noch mit
Fieber zu kämpfen hatte. Wir wollen es langsam angehen lassen. Wir haben
uns viel zu erzählen... und verpassen dadurch beinahe den Start. Es ist
zwar erst 6 Uhr morgens, aber an Zuschauern, die uns die ersten Meter
anfeuern, mangelt es nicht. Es ist ein unbeschreiblich tolles Gefühl und
es fällt mir schwer, die Freudentränen zurückzuhalten.
Jörg: Wir nehmen die Motivationsspritze der Eisenacher gerne entgegen:
„Nur noch 72 Kilometer“, informiert uns ein Schild an der Straße. Danke,
liebe Eisenacher. Nach 20 Minuten laufen wir auf eine kleine Wiese.
Blauer Himmel, die Morgensonne tut gut. Links von uns galoppiert eine
Herde gut aufgelegter Pferde. Denen macht es richtig Spaß. Die Körper
dampfen in der frischen Luft. Herrlich. Was die wohl von der bunten
Läuferschlange halten, die hier ihre Idylle stört? Gerne würde ich noch
einige Minuten bleiben.
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Die Läuferschlange am Burschenschaftsdenkmal
Jörg: Locker laufen wir weiter und unterhalten uns über Lauferlebnisse,
über die Eiweißaufnahme im Darm, über Technische Dokumentationen,
Trommler, Didgeridoo und Dudelsackspieler und laufen nebenbei die ersten
25 km.
Manuela: Die ersten 25 km vergehen wie im Flug mit Plaudern und Fotos
knipsen. Wir treffen auf Anne, die sich doch entschlossen hat, dieses
Jahr wieder mitzulaufen. Rennsteiglauf macht süchtig! Am dritten
Verpflegungsstand gibt es dann endlich den von mir heiß geliebten
Schleim. Lecker!
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Großer Weissberg und Anstieg zum Inselsberg
Jörg: Ich versuche über Handy meine Frau Ute zu erreichen. Ob das andere
Läufer verstehen? Handy und Landschaftslauf passen nicht. Doch als Papa
muss ich wissen, ob mein Sohn fit am Start zum Junior-Cross ist. Ich
kann Mama und Sohn nicht erreichen und denke immer wieder an sie.
Plötzlich stehen wir vor dem letzten, aber heftigen Anstieg zum großen
Inselsberg. 2 Fotos am Gipfel und schon geht es an den steilen Abstieg.
Nach einigen Minuten gönnt mir Manuela eine kurze Verschnaufpause. Ich
verfalle in einen langsamen Spaziergang und gehe etwas in mich. Das tut
gut. Ich bin am Rennsteig, beim Lauf meiner Träume. Kaum eine Minute
später ist Manuela aber schon wieder da. Oh Mann, warum ist das Mädel so
schnell fertig und rast dann gleich mit Vollgas wieder los?
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Netter Empfang vor der Ebertswiese (KM 37,4) |
Manuela: So allmählich stoßen die ersten Wanderer
zu uns. Ich hoffe, meinen Freund Gerd auszumachen, der zusammen mit vier
seiner Freunde die 35 km Wanderstrecke in Angriff nimmt. Nach 41 km
kommen sie in Sicht. Ein großes Hallo, ein Foto und schon nehmen Jörg
und ich wieder Fahrt auf.
Jörg: Bis zum kurzen, aber steilen Anstieg vor km45 läuft alles prima,
aber nach der Verpflegungsstation an den Neuhöfer Wiesen (km45) beginnt
für mich ein neues Kapitel. Aus den mittlerweile dichten Wolken fällt
Regen und ich falle in ein ganz großes schwarzes Loch. Nichts geht mehr.
Kein klarer Gedanke. Ich will und kann einfach nicht mehr.
Bis zum Grenzadler (km54) will ich wenigstens durchhalten. Wenigstens
das. Schmiedefeld, das schönste Ziel der Welt, das ist mir zur
Nebensache geworden. Oh Mann!
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Unvergleichbar: Die Verpflegung am Rennsteig |
Manuela: Dann Jörgs Einbruch. Er sieht nicht gut
aus, wahrscheinlich steckt ihm die Erkältung noch in den Rippen. Ich
kämpfe mit mir. Soll ich bei ihm bleiben oder soll ich alleine
weiterlaufen? Auch ich spüre die zurückgelegten 40 km, sie schlagen auf
meine Psyche, und mir ist klar, wenn ich jetzt nicht mein Tempo halte,
werde ich ebenfalls Probleme bekommen. Schweren Herzens trenne ich mich
von ihm. Ich laufe alleine weiter, noch voller Energie und auf
Überholkurs.
Jörg: Manuelas Worte aus einer E-Mail kommen mir zum wiederholten Mal in
den Kopf: „Ab km70 ist es nur eine Frage der Psyche“. Und ab km50, frage
ich mich, was ist es da?
Vorher haben wir darüber gelacht, jetzt lache ich nicht mehr. Gut, dass
Manuela jetzt ihr Tempo laufen kann. Ich hätte nur versucht sie nicht zu
bremsen und mich vollends kaputt gemacht. Ganz langsam geht es bei mir
weiter. Bis zum Grenzadler muss ich kommen. Was soll ich auch hier, in
diesem dunklen, trostlosen, nassen und kalten Wald. Kurz bleibe ich bei
einem älteren Läufer stehen, der unter üblen Krämpfen im Oberschenkel
leidet. Sein Frust sitzt tief. Noch tiefer als bei mir. Er will in die
Europacup-Wertung und in 2 Wochen noch nach Biel. Und jetzt das. Armer
Kerl. - Ich gebe ihm homöopathische Globuli, die mir immer sehr gut
helfen. Sehr skeptisch schaut er sich die 3 winzigen Zuckerkügelchen an.
Ich nehme auch eines, wünsche ihm alles Gute und laufe wieder langsam
los. Hoffentlich schaffte er es noch gut ins Ziel. Diese kurze Begegnung
hat gereicht, um mich aus meinem Loch zu bringen. Klingt verrückt, ist
aber so. Auf einem leicht abschüssigen Weg steigere ich mein Tempo
wieder und ernte einige nette Kommentare von Leidensgenossen. „Das Fest
wartet“, oder „willst du noch eine warme Dusche“ oder nur die Frage „was
ist denn jetzt los“. Ich laufe was die Schlappen hergeben und sehe
irgendwann weit vor mir ein hellblaues Trikot. Ich gebe noch mal Gas und
erkenne Manuela. Unerreichbar, aber in Sichtweite. Das tut gut.
Manuela: Erstaunlich viele Läufer sind schon am Gehen. Ich denke an Jörg
und frage mich, wie es ihm jetzt wohl geht. Hoffentlich schafft er es
bis nach Oberhof. Dann unvermittelt mein eigener Einbruch. Nicht wie
letztes Jahr, 8km vor dem Ziel, sondern schon viel früher. Mir fehlt die
Kraft. Verdammt, warum bin ich nur ohne Jörg weitergelaufen? Ich setze
einen Fuß nach den anderen, alles ganz automatisch, der Kopf vollkommen
leer. Dann endlich die Verpflegungsstation am Grenzadler! Ich mache mir
Mut: jetzt kann nichts mehr schief gehen, auch wenn die letzten
Kilometer hart werden würden.
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Am Grenzadler bei Oberhof |
Jörg: Vor dem Grenzadler hab ich Manuela fast
eingeholt, nur noch 50 Meter. Aber ich kenne sie inzwischen. Keine lange
Pause, einen Becher Schleim und ein lauwarmer Tee und sofort geht es
weiter. Das pack ich jetzt nicht. Gerade kommt neuer, noch wärmerer Tee
und ich nehme einen zweiten Becher. Und: hier am Grenzadler, am
Leistungssportzentrum und Olympia-Stützpunkt funktioniert sogar mein
Handy. Ich nehme eine kleine Auszeit und erreiche meine Ute. Endlich. Es
geht ihr aber nicht so gut. Nach 25 gemeinsamen Jahren hör ich das beim
ersten Wort. Es regnet in Schmiedefeld inzwischen schon lange und meinen
beiden ist es saukalt. Sie stehen im Rewe-Markt und wärmen sich. Timo
ist super gut gelaufen. Ich bin glücklich. So vergesse ich die
Ausstiegsmöglichkeit hier am Grenzadler bei km54. Erst nach einigen
Minuten wird mir klar, dass ich auch den Bus hätte nehmen können. Ich
muss innerlich lachen und denk mir, dass es so schlimm wohl gar nicht
ist. Wieder verrücktes Tempo und plötzlich bin ich bei Manuela. Ich
freue mich, dass wir wieder zusammen sind und ich glaube ihr geht es
ähnlich. Sie sieht auch nicht mehr frisch aus (was für ein Kompliment
für eine junge Frau). Sicher setzen ihr auch der stundenlange Regen und
die Kälte zu.
Manuela: Ein Läufer spricht mich an, wir unterhalten uns, ich bin
dankbar für die Ablenkung. Viel zu früh lässt er sich zurückfallen. Ich
laufe weiter, meine Gedanken kreisen. Dann plötzlich spüre ich eine Hand
auf meiner Schulter. Ich drehe mich um und kann es nicht glauben: es ist
Jörg! Ich bin überglücklich! Ihm geht es prächtig und er legt ein Tempo
vor, bei dem ich kaum mithalten kann. Wenn nichts mehr geht, hilft nur
eins: homöopathische Globuli! Wie gut, dass Jörg bestens damit
ausgestattet ist. Im Vertrauen auf die Wirkung nehme ich dankbar ein
Kügelchen an. Jörg erzählt mir, dass er damit schon so manchem Läufer
wieder zu neuer Energie verholfen hat.
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Regen auch an der Suhler Ausspanne bei KM 60 |
Jörg: Die folgenden Kilometer ziehen wir uns
gegenseitig. Keiner will mehr alleine laufen und so werden wir immer
schneller. Manuela beklagt sich, dass ich ihre „besten“ Schuhe dreckig
mache und will nun doch nie mehr mit mir laufen. Schön, dass sie wieder
einen Spaß machen und lachen kann.
Manuela: Die Waldwege werden zunehmend matschiger und man muss
aufpassen, nicht auszurutschen. Vor uns kommt ein Läufer mit Hund in
Sicht. Ich frage mich, wer von den beiden am Abend wohl erschöpfter sein
wird: der Hund oder sein Herrchen? So allmählich kommt wieder Leben in
meinen Körper. Wir laufen, fast schon fluchtartig. Wir sind auf
Überholkurs. Nichts kann uns jetzt noch bremsen. Es tut verdammt gut!
Die letzten Kilometer ziehen sich zwar arg in die Länge, aber das ist
mir egal. Die Beine wollen ins Ziel: jetzt nur nicht mehr stehen
bleiben! Ich bin froh über Jörgs rasantes Tempo und witzele: wenn er
vorhat, die Schallmauer zu durchbrechen, soll er mir bitte rechtzeitig
Bescheid geben.
Jörg: Wie viele Vororte hat denn die Großstadt Schmiedefeld? Das zieht
und zieht sich. Überall Pfützen und Matsch und Dreck. Egal. Am Anfang
sind wir denen noch ausgewichen, haben auf unser Äußeres geachtet. Jetzt
nicht mehr.
Manuela: Endlich der Ortseingang von Schmiedefeld. Fußgänger mit
Regenschirmen kommen uns entgegen. Jetzt erst wird mir richtig bewusst,
dass es in Strömen regnet. Die letzten Meter, und dann kommt das Ziel in
Sicht. Geschafft!
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Die letzten Meter für uns beide |
Jörg: Alle Anspannung ist plötzlich weg.
Klatschnass, aber glücklich lassen wir uns die Medaillen umhängen. Kurz
nach uns eine Durchsage des Sprechers im Stadion, die mir in den
folgenden Tagen auch nicht mehr aus dem Kopf geht: „Rennsteigläufer ihr
seit im Ziel. Reißt die Arme hoch.“ - Wirklich ein Lauf der Emotionen!!!
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Manuela: Im Zielbereich warten bereits Jörgs Frau
und sein Sohn, beide sehen ziemlich unterkühlt aus. Kein Wunder bei
diesem Wetter! Wir treffen Susanne Hager, auch vom "Team Bittel",
bereits warm verpackt und wie immer bester Laune. Jörg und ich
verabschieden uns hastig, denn es ist so kalt, und ich mache mich auf
den Weg zur Dusche. Inzwischen schlottere ich schon ziemlich und meine
Hände sind so klamm, dass ich einige Minuten damit beschäftigt bin den
Knoten an meinem Kleidersack zu lösen. Hilfe! Und es regnet noch immer,
als ich wieder ins Freie trete. Ich werfe mir den Regenumhang über, der
beim Obermain Marathon vor einigen Wochen verteilt worden war. Ach bin
ich froh, dass Erwin den Umhang damals liegen gelassen und ich ihn
eingepackt habe! Jetzt schnell zum Bus und zurück nach Eisenach! Prompt
werde ich auf dem Weg dorthin von zwei Läufern aus Bad Staffelstein
wegen des Umhangs angesprochen. Das ist das Schöne an solchen
Veranstaltungen: man kommt sehr schnell in Kontakt mit anderen Läufern.
Wir plaudern etwas, bis sich unsere Wege trennen. Zum Glück wartet der
Bus bereits an der Haltestelle. Endlich sitzen!
Jörg: Nach einigen Minuten sind wir derart ausgefroren, dass wir nur
schnell die Wärme suchen. Manuela unter der hoffentlich warmen Dusche,
wir drei in unserer Pension in Suhl.
„Die Kälte vergeht irgendwann, der Stolz kommt auf jeden Fall noch.“ -
Das würde ich jetzt unterschreiben. Ich sitze im Auto, friere wie blöd
und denke an die letzten Stunden auf dem langen Kanten. Der Start in
Eisenach, die schönen Pferde in der Morgensonne, denke an den Inselsberg,
an mein schwarzes Loch, an die Wiederauferstehung, das Wiedersehen mit
Manuela und an die gemeinsame Zielankunft in Schmiedefeld. Und ich bin
froh, jetzt nicht alleine zu sein. Vielen Dank vor allem an meine Frau,
an Timo und natürlich an Manuela. Nur langsam kehren die Lebensgeister
zurück. Und viele, viele Gedanken werden noch lange in meinem Kopf
kreisen.
Manuela: Einige Stunden später, einen Tag danach, Inzwischen sind die
Anstrengungen vergessen und die Leere in meinem Kopf ersetzt durch die
schönen Erinnerungen an den Lauf. In den Beinen kribbelt es wieder, sie
würden zu gerne schon wieder laufen. Jetzt heißt es Geduld bewahren, nur
nichts überstürzen. Wie sehr freue ich mich auf den nächsten Lauf! Ganz
herzlich möchte ich mich bei Jörg bedanken, ohne den ich die 73km nicht
gepackt hätte (ich hätte mir keinen besseren Laufpartner wünschen
können!) und bei Gerd, meinem Freund, der mich während der letzten
Monate kaum zu Gesicht bekam und wenn, dann meist in Laufklamotten!
Unser Lauf der Emotionen,
Jörg und Manuela (Mails an
Jörg und
Manuela)
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Infos: www.rennsteiglauf.de
Supermarathon 73km: 1.366 Männer + 191
Frauen (12%)
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