Mein Tortoürchen - Nacht der Nächte - Das 1. Mal
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Nachdem der
Rennsteig zum Vergangenen zählte und ich wieder laufend durch meine
Felder unterwegs war, musste ich mich auf mein ganz großes Ziel für
dieses Jahr, nämlich Biel einstellen. Warum gerade Biel?
Ich wollte mich auf jeden Fall an einem 100km-Lauf versuchen. In Biel
hat man als Zeitlimit 21 Std. und es hat die wenigsten Höhenmeter, nur
645 m. Und außerdem heißt es ja immer "Einmal musst du nach Biel". Es
soll eine tolle Veranstaltung sein, war aus den "tausenden" Berichten zu
lesen. |
Hallo liebe Läuferfamilie,
ein großes Ziel für dieses Jahr ist vollbracht. Es war sehr hart,
ein Tortoürchen für mich, aber geschafft. So viele neue Gefühle!
Unglaubliches.... nie Dagewesenes... Schmerzen.... Weinen.....
Verzweiflung........ Glücklich sein!
Wir bereiteten unseren Schlafplatz vor. Nachdem es aufgehört hat zu
regnen, erkundschafteten wir die Gegend. Zuerst den Expo-Platz, hier
fand die Veranstaltung statt mit Zelt und Zielbereich, Duschen und
Toilettenwagen. Der Startbereich war in der Stadt beim
Kongressgebäude. Alles war gut mit Schildern markiert und so fanden
wir den Startplatz schnell, ein kleiner 12 Minuten Weg ins
Stadtinnere. Am Expo-Platz war der Kinderlauf voll im Gange.
Ansonsten war kein Programm zu finden, keine Musik wie beim
Rennsteig, keine Party, nichts. So sollte es auch die nächsten Tage
sein. Es gab Messestände und den Bereich an dem man seine
Startunterlagen abholen konnte, Infostand und Massagepunkt,
Sanitäter und Umkleide. Ich reihte mich in die Schlange, um meine
Startsachen abzuholen. Dieses Mal gab es keinen Chip für den Schuh,
sondern der Zeitchip befand sich mit zwei Tackernadeln an der
Startnummer. Oje, hoffentlich verliere ich den Chip nicht. Denn ohne
Chip keine Zeitnahme. Na großartig, das heißt schon wieder Stress,
große Aufmerksamkeit auf das Startnummernblatt. Und die Preise: Wow,
10 Schweizer Franken für Spaghetti mit Soße. Ist halt Schweiz.
Nachdem wir uns die Pasta hatten schmecken lassen und ein Schweizer
Bier, gingen wir in die wohlverdiente Nachtruhe, denn die nächste
Nacht wird bestimmt nicht ruhig.
Am nächsten Morgen füllte sich der große Parkplatz und immer mehr
Teilnehmer mit ihren Wohnmobilen und Zelten trudelten ein. Wir
ließen uns unseren selbstgemachten Kaffee in der Sonne neben dem
Auto schmecken und chillten den ganzen Tag. Das ist vielleicht ein
Gefühl, nur chillen, kein Kind, kein Hund, kein Kegel. Auch sonst
stört nichts, nicht viel reden, einfach nur die Sonne ins Gesicht
scheinen und die Seele baumeln lassen. Hach genial!
Dann
präparierte ich meine Streckenkarte. Ich markierte die Punkte, an
denen es eine Toilette gibt und bei welchen KM eine Steigung kommt.
So gerüstet, dachte ich, passt das schon.
Hach
wie schön, die letzten Sonnenstrahlen genießen! |
Paßt!
Und ab in den Rucksack damit |
Meine Arbeitskollegin schickte mir eine SMS, dass sie in Gedanken
bei mir ist und ich gesund ins Ziel kommen soll. Wie schön, danke!
Eine sehr willkommene Motivation. Gleichzeitig gab sie mir den
letzten Stand des Wetterberichtes: Na bravo, Regen in der Nacht und
am Morgen und das nicht zu knapp. Super. Was mache ich nur, was
ziehe ich an? Welche Schuhe? Ich bin hin und her gerissen. Soll ich
meine Goretex-Schuhe anziehen? Aber das sind Trailschuhe. Oder doch
lieber die normalen Laufschuhe und dann im Schuh schwimmen? Oh Mann,
keiner da, der mir noch ein paar Tipps geben kann. Gegen 18 Uhr
gingen wir ins Zelt zum Abendessen. Da begegneten wir Bernhard
Sesterheim. Endlich konnte ich meinem Vorbild mal persönlich die
Hand drücken und ein Pläuschchen halten. Ich fragte ihn, ob er mir
einen Tipp zwecks der Schuhwahl geben könnte. Er riet mir sofort von
den Trailschuhen ab: "Du bekommst sowieso Blasen, also ist es egal".
Hm...?
Ich hatte die Möglichkeit im Kopf, dass man hier einen Beutel
abgeben kann, der wird von der Armee nach Kirchberg (56km) gefahren.
So kann man z.B. Kleidungstücke oder Schuhe oder was Mann/Frau sonst
so braucht dort hinbringen lassen und wenn nötig, sich umziehen. Ich
informierte mich über die genaue Vorgehensweise am Infostand und
überlegte noch einmal, was ich denn am besten tun sollte.
Danach stellten wir uns in die große Schlange zur Essensausgabe. Ich
entschied mich noch einmal für Pasta. Auf jeden Fall konnte ich
essen, nicht so wie 2010 in Ulm, da hatte ich keinen Bissen runter
bekommen und das rächte sich dann. Nach frischer Stärkung gingen wir
zurück an unseren Chillplatz. Und was passierte dann? Ihr werdet es
kaum glauben, es fing wieder an zu regnen. Nein, das ist doch jetzt
nicht wahr. Schon wieder! Aber das wird nicht das letzte Mal sein,
dass ich das denke bzw. sage :-( Dann überkam es mich,
ich packte meinen Beutel mit meinen normalen Laufschuhen und
Ersatzkleidung und gab ihn ab für Kirchberg. Ich wollte nicht schon
die ersten 50 km mit völlig durchnässten Füßen laufen. - Der Regen
hatte wieder aufgehört, ab und an tröpfelte es. So gegen 20 Uhr
machte ich mich startklar. Der Platz füllte sich, die Schlangen an
den Toilettenwagen wurden länger und ein Gewusel von Teilnehmern,
Fahrradfahrern, Familienmitgliedern und Freunden machten sich auf
den Weg zum Start. Um 21 Uhr machten wir uns auf in die Stadt. Eine
große Menschenmenge sammelte sich am Startplatz.
Startplatz |
Billy Biene -mein Maskottchen- ist natürlich dabei,
hoffentlich klappt alles! |
Alle
warten gespannt... |
...auf den Startschuss |
Ich suchte mir ein Plätzchen weit am Ende, wollte nicht überrannt
werden. Für mich war nur finishen das Ziel. So wartete ich
angespannt auf den Startschuss. Dann der Countdown und ab ging die
Post. Kein Gedrängel, die meisten liefen langsam los. 5 km ging es
durch die Stadt. An einigen Stellen gab es mehr Publikum, das uns
anfeuerte als an anderen.
Durch die Stadt Biel |
Erwischt vor dem Comet |
Auch hier sagte ich mir, lass dich nicht aufpuschen, du willst noch
100 km laufen. Immer langsam auf der Strecke! Dann der erste
Anstieg, alle walkten hinauf. Naja, Ausnahmen gab es. Aber da habe
ich auf die Startnummer geguckt, meistens stand darauf "21,1 km"
oder "Marathon 42,2 km". Die unterschiedlichsten Läufertypen sind
unterwegs. Vor mir läuft wahrhaftig jemand barfuss, Wahnsinn! Einige
Läufer sind mit Regenschirmen unterwegs. Da plötzlich,
husssssssssccccchhhhhhhh, was war das? Wie ein Tiefflieger. Aha, das
war einer von einer Stafette. Auf den ersten 40 km hat man alles was
Beine und Stöcke hat mit auf der Strecke. Da darf man sich nicht von
der Schnelligkeit anstecken lassen. Die Stöcke allerdings waren
manchmal nervig. Zu zweit nebeneinander quasselnd, auf schmalen
Wegen, da geht einem 100km-Läufer schon manchmal der Gaul durch. Man
kommt in keinen Rhythmus rein. Da war man wirklich froh, nach 40km
endlich alleine zu sein. Achtung, Chip noch dran? Puh, alles in
Ordnung.
Die erste Getränkestelle war bereits in der Stadt Biel selbst. Es
gab Wasser, Tee, und Energygetränk in verschiedenen
Geschmacksrichtungen, ebenso bei allen folgenden
Verpflegungsstellen. Die Strecke führte durch Felder, Wälder und
Wiesen. Aber der größte Anteil war Asphalt, durch Dörfer oder auf
Landstrassen. Die meisten waren gesperrt oder nur wenig befahren.
Achtung, Chip noch dran? Alles in Ordnung.
Ah, da ist Aarberg, der berühmte Punkt mit der Brücke und dem blauen
Teppich. Der Punkt, der Gänsehautfeeling habe, laut vielen
Läuferberichten. Aber, das war für mich garnicht der Fall. Es waren
nur wenige Zuschauer und es war verhältnismäßig still. Na ja, die
geiern nur nach den Profis und Durchfliegern, und vergessen die
Normalis völlig. Egal, weiter geht es.
Ups,
die Brücke nur schemenhaft.
Da habe ich nicht lange genug still gestanden
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Die Laufstrecke ist in 3 Teilstrecken unterteilt: 1. Teilstück bis
38 km bei Oberramsern, 2. Teilstück bis Kirchberg 56 km und das 3.
Teilstück 76,5 km bei Bibern. Hier hat man die Möglichkeit
auszusteigen und dennoch eine Wertung zu erhalten. Ein Postbus fährt
die Personen wieder nach Biel zurück. Und der Regen? Es war
furchtbar: Regen, Regen, nichts als Regen! Mal schwächer und mal
stärker. Auf einem Feldstück war so ein starker Sturm, dass ich mich
dagegen stemmen musste um nicht umgerissen zu werden. Na, das konnte
ja heiter werden. Und patsch, nächste Pfütze, auch wieder mir. Trotz
Stirnlampe konnte ich nicht alle Pfützen erfassen. Ach wie herrlich,
trotz Goretex-Schuhen jetzt schon nasse Füße. Grrrrrrr! Und, Chip
noch dran? Uff, alles in Ordnung.
Dann wieder eine Verpflegungsstelle. Ab KM 20 gab es sogar Bouillon.
Da ich beim Rennsteig ja schon den Fehler machte zu wenig zu essen
oder Salziges zu mir zu nehmen, wollte ich dieses Mal nicht
denselben Fehler machen. Ich freute mich auf Suppe. Außerdem las ich
in einem Läuferinbericht, dass sie es so gut geschafft habe, weil
sie bei jeder Verpflegungsstelle 1/2 Becher Wasser, 1/2 Becher
Bouillon, 1 Päckchen Gel, 1/2 Becher Cola + 1/2 Becher Wasser zu
sich genommen hatte. So wollte ich es auch tun. Klappte auch, nur
mit dem Erfolg, dass ich ständig auf Toilette musste! Eigentlich
sollten ausschließlich die aufgestellten Toiletten genutzt werden.
Aber das funktionierte überhaupt nicht. Leider musste Feld und Wald
auch daran glauben. Aber dann im Hellen sah ich, dass ich da nicht
alleine war. Mit der Festnahrung, das hatte ich mir anderes
vorgestellt. Es gab trockene Brotstreifen und kleine Teile
Energieriegel in jeglicher Form, und Gel. Dann gab es Bananenstücke,
ab und an Apfel- und Orangenstücke. Da ich Bananen nicht vertrage
beim Laufen, freute ich mich auf Apfelstückchen und Orangen. Für ein
Butterbrot hätte ich viel gegeben. Vielleicht sollte ich mir das
nächste Mal eines vom Rennsteig aufheben und mitnehmen :-)
Egal, trockenes Brot tut's auch, würg. Etwas trocken. Und Wasser
drauf. Bei jeder Verpflegungsstelle ließ ich mir gemütlich Zeit und
aß in Ruhe. Auch hier sind einige, sogar ältere Läufer, an den Stand
gerannt, mich weggeschubst und schnell, schnell, schnell
weitergelaufen. Na ja, wenn's schee macht? Oh Gott, Chip noch dran?
Bffff, alles in Ordnung.
Weiter geht's durch die Nacht. Ab KM 30 merke ich, dass ich
Schienbein- und Knieschmerzen bekomme. Oh Mann, was ist denn das
jetzt? Bernhard, hat mal wieder Recht behalten. Jetzt darf ich mich
noch 26 km quälen bis Kirchberg. Gott sei Dank, habe ich meine
Schuhe dort deponiert. Also Schmerz wegatmen. Zu was so ein
Geburtskurs alles gut ist. Ist zwar sehr lange her, aber ich
erinnere mich noch... Also hecheln und wegatmen. - Hallo Kühe! Ja,
ich weiß, wir sind wieder die Verrückten. Wie jedes Jahr im Juni :-)
Huch, was fliegt denn da über meinen Kopf? Eine Fledermaus begleitet
uns auf der langen Landstrassenstrecke. Und im Schein meiner
Stirnlampe sehe ich immer wieder Frösche auf der Strasse sitzen.
Jetzt wird mir kalt, die Müdigkeit kommt durch. Es ist 3 Uhr
morgens. Kein Mondlicht, nur Wolken, alles trostlos. Aber die
Lichterkette der Läufer in der Ferne, das hat was! Nein nicht schon
wieder! Und wieder keine Toilette weit und breit. Man krieg es doch
aus dem Kopf... bong... bong... aus dem Kopf: Du musst nicht, alles
ist gut. Man jetzt krieg doch endlich andere Gedanken...
Piep! Was war das? Oh nein, mein Handyakku ist fast leer. Nein, dann
kann ich Markus nicht anrufen, wann ich wo bin... Bong... bong...
klopf klopf an meinen Kopf: Nein, du musst jetzt nicht schon wieder
in die Büsche. Nein, das blöde Handy. Aahhh, Gott sei Dank da ist
ein Rapsfeldende. Erlösung. Und Chip noch dran? Alles in Ordnung.
Mensch, do blöder Kopf mit deinem blöden Chip du nervst.
KM
50, die Hälfte geschafft! |
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Weiter. Durchhalten, bis km56. Durchhalten. Oh Mann was für
Schmerzen. Aber es wird bestimmt besser, wenn ich dann die anderen
Schuhe anhabe. Es wird alles gut! Langsam wird es hell. Ob man jetzt
ein bisschen mit den anderen Läufern reden kann? So wie beim
Rennsteig, da ging die Zeit so schnell rum. Aus Bernhards Bericht
weiß ich, dass man am besten in der Nacht niemanden anspricht.
Deshalb habe ich es auch gelassen. Aber jetzt ist es bald hell. Ich
versuche es mal. Da überhole ich wieder jemand:" Guten Morgen!",
versuche ich mit fröhlich leisem Ton ein Gespräch einzuleiten.
"Guten Morgen" kam es zurück. Mit dem Unterton, lass mich in Ruhe.
Na gut, ich versuche es beim Nächsten. Aber dasselbe Ergebnis. Ok,
dann eben nicht. Dann muss ich wohl noch warten. Oh... meine Knie!
Welch ein Schmerz. Meine Waden... ich glaube ich bekomme einen
Krampf. Meine Beine spüre ich fast nicht mehr, es ist soooo kalt.
Nach 8,5 Stunden erreiche ich Kirchberg.
Kirchberg, hier kann man aussteigen mit Wertung.
Dann bitte nach rechts ab. Neeeeeeee! |
Ab
km56 mit frischen Füßen.
So, jetzt noch Verpflegung |
Jaaaaaaaaaaa. Endlich! Schuhe wechseln. Ah, wie gut das tut. Und die
Socken? Jo, die wechsele ich auch gleich. Das war doch ein Fehler.
Und eine saubere Toilette, herrlich! Dann noch trinken und essen.
Auch hier verweile ich einen Augenblick, trinke ausreichend (hallo
ihr Felder ich komme gleich) und nehme mir ein paar Apfelstücke mit
auf den Weg. Achtung, Chip noch dran? Jaaa, alles ok.
Wieder eine Verpflegungsstelle. Nette Menschen warten hier auf uns.
Ein Lächeln kommt rüber: Und es geht mir gleich besser. Alles
aufgetankt, getrunken und gegessen, es kann weiter gehen. Und es
regnet wieder! Chip noch dran? Ups, ja alles in Ordnung. Aber er
hängt mittlerweile runter da das Startblatt durchnässt ist.
Es geht einige Kilometer einer Landstrasse entlang. Mir ist kalt,
meine Zähne klappern. Was soll ich nur machen? Mir wird überhaupt
nicht mehr warm. Mensch, ich habe doch noch meine Armlinge und meine
Handschuhe im Rucksack! Artig hatte ich sie in einer Plastiktüte im
Rucksack verstaut, sonst wären sie jetzt nass. So konnte ich sie mit
einigem Gewurschtel während des Laufens anziehen. Ach, ein bisschen
besser. Eine Zeit lang geht das gut. Bei Km 70 ist alles vorbei.
Ab KM 70 wird die Kilometerzahl angezeigt, die man noch
vor sich hat.
Rückwärts zählen soll motivieren.
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Ich rechne aus, wie lange ich noch brauche. Aber ich kann Markus
doch garnicht mehr anrufen! Wie mache ich das bloß? Soll ich
jemanden Fremdes fragen und zuhause den Kindern Bescheid geben,
Markus eine SMS schicken? Das kann ich doch nicht machen. Mir ist
soll kalt, ich bin müde und ich spüre meine Beine nicht mehr. Bis km
80 werde ich mich noch durchschleppen können. Ich gebe auf...
Nein, das kannst du doch nicht machen! So viele Menschen sind mit
dir in Gedanken und drücken dir die Daumen. So ein Blödsinn! Du bist
schon soweit gekommen. Mein Schweinehund hat im Moment wirklich die
Oberhand. Bei km 76 könnte ich mit Wertung aussteigen? Oh Mensch,
ich bekomme gleich ein Krampf. Locker, bleib locker, schüttle die
Beine und atme. Du hast keine Schmerzen, nein du hast keine
Schmerzen! - Es geht weiter. Zu jedem an dem ich vorbei laufe,
sage ich "Hallo". Aber keiner will reden. Dann wieder eine
abgesperrte Kreuzung, ein Polizist ruft uns "Bravo" zu, und: "jetzt
bist du 2 Jahre jünger". Ich muss lachen. Eigentlich fühle ich mich
wie 2 Jahre älter. Aber er hat mich wieder ein bisschen
aufgemuntert. Km 76 Bibern. Ich trinke wieder alle Getränke in mich
hinein, esse trockenes Brot (würg) und wieder Wasser hinterher, ein
paar Apfelstücke mit auf den Weg. Und der Chip noch dran? Jaa, alles
ist in Ordnung.
Und weiter geht's, sofort bergauf. Puh, aber es geht. Wo es bergauf
geht, da muss es auch wieder bergab gehen. Dann könnte ich ja wieder
mal laufen und es vielleicht es ein wenig rollen lassen. Oben
angekommen, versetze ich meine Beine in Lauftempo. Ach du liebe
Zeit! Stopp, stopp! Au au, das geht garnicht! Aus! Vorbei!
Schienbeinschmerz, Knieschmerz... Oh mein Gott! Ich bin völlig
entmutigt. So ein Mist, jetzt geht nichts mehr mit Laufen. Wenn ich
mich umschaue, registriere ich, dass keiner mehr läuft. Alles walkt
nur noch. Na dann bin ich doch in bester Gesellschaft.
Was ist das? Trap trap trap. Ein Läufer? Mensch ist das nicht
Rafael vom Team Bittel? Ich bin mir nicht sicher. Vielleicht
halluziniere ich gerade. Ich rufe ihm noch ein "super" hinterher.
Aber er ist, glaube ich, in völliger Trance (im Nachhinein stellte
sich heraus, dass es wirklich Rafael war). Da 80 km. Cool! So weit
bin ich noch nie gelaufen! Erfolgserlebnis, wenn der Regen nicht
wäre und mich völlig deprimieren würde... Wieder eine
Verpflegungsstelle. Dieses Mal muss ich wieder Cola trinken. Das
habe ich das letzte Mal nicht gemacht und ich bin müde. Es schüttet
aus Eimern. Oh, ich wollte viele Bilder machen! Aber mir ist nicht
danach, der Regen, die Kälte, ich habe keine Lust. Mittlerweile
laufe ich schon eine ganze Zeit hinter einer Nordic-Walkerin her.
Sie hat ihren "Coach" dabei. Einige Teilnehmer lassen sich von einem
Freund oder Familienmitglied mit dem Velo (Fahrrad) begleiten. Ich
bin froh, dass ich niemanden neben mir habe. Das würde mich nur
nerven. Ich bin alleine mit mir und meinem Schmerz. Oh nein, wieder
daran gedacht.. aua... aua... Schalte deinen Kopf einfach aus und
walke. Ok, ok! Ich werfe meinen MP3-Player an und freue mich über
meine Musik. Dann fällt mir Ulm vom letzten Jahr ein. Da gab es eine
Walkerin, die war hinter mir und hatte mich überholt. Sie walkte so
richtig mit schwingenden Armen, war eine taffe Lady. Und dann der
Rennsteigler, der hat am Schluss auch so richtig gewalkt und das
habe ich auch nachgemacht. Weißt du was, das machst du jetzt auch
so. Ich mache meine Musik laut und denke: "So jetzt reicht es, ab
geht's"! Wow, was das eine Power bringt. Das geht ja richtig
ab. Jaaa, ich bin wieder da! So das 90km-Schild kann kommen.
Lalalala, dann ist es nicht mehr weit. Da, da vorne ist doch schon
ein Schild... Yippieeeh! Oh nein, ich bin ja erst bei 85km. Egal,
mir geht es gut. Patsch, grrrrrr, wieder eine der tausend Pfützen
und wieder nasse Füße. Es geht eine lange Strecke an der Aare
entlang. Achtung, Chip noch dran? Ja, alles ok.
KM
85 nur noch 15 km. Links kann man den tollen Matscheweg
sehen |
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Hier ist normalerweise ein befestigter Weg, aber heute ist durch den
Regen alles aufgewühlt. Entweder hat man Matsch oder Pfützen, sehr
motivierend. Nicht hängenlassen, Arme kräftig bewegen, so wird mir
warm. Da vorne sind wieder ein paar Läufer. "Hallo" sage ich mit
Grinsgesicht. "Hallo" mit Unterton kommt zurück. Ok ok... habe
verstanden. Wegen mir, dann überhole ich euch halt. So, das habt ihr
nun von eurer Muffelei. Da vorne wieder ein paar Läufer. Das gleiche
Spiel und derselbe Unterton. Ja ja... schon gut. Ich überhole und
überhole. Einen nach dem anderen. Außer wenn ich mal wieder zum
hunderttausenden Mal ins Feld huschen muss. Dann passiert es, dass
ich wieder überholt werde und ich mich dann wieder von hinten
anschleiche. Hahaha...
KM
90 |
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Dann KM 90. "Wou-wou-wou" würde Julia Roberts (Pretty woman -
Pferderennbahn) jetzt sagen. Nur noch 10 km. Und ich kann Markus
nicht erreichen. Mensch, jetzt sieht es so gut aus, dass ich es
schaffe. Vielleicht hilft Telepathie. Ich denke ganz fest an meinen
Mann, vielleicht klappt es ja. Weiter immer weiter. Oh wie schön,
die Sonne kommt raus, auf den letzten Kilometern. Es wird sogar ein
bisschen warm. Wieder eine Verpflegungsstelle. Ein Schild zeigt an
"Letzter Batteriewechsel - noch mal ein letztes Mal auftanken".
Alles nach Plan schütte ich in meinen Bauch. Weiter geht's! Dann das
Schild 95km. Jaaa, jetzt zählen die Schilder in einzelnen Kilometern
rückwärts. Chip? Ja, ist auch noch dran!
KM
95 Finishline, Finishline, nur noch 5 km |
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Ich bin gut drauf, höre meine Musik, walke kräftig mit den Armen und
grinse vor mich hin. Ich räume das Feld von hinten auf. Immer wieder
kommen mir Spaziergänger entgegen und klatschen und rufen "bravo"
oder "super Leistung". Mir geht's so gut, so gut, so gut, dadadada.
Auuuua! Was war das denn jetzt. Oh nein, Blase! Ich habe eine Blase
an der Ferse! Das kann doch nicht wahr sein! Ich hatte noch nie
Blasen. Ok, Bernhard hat Recht. Jetzt muss ich diese Schmerzen auch
noch aus dem Kopf streichen. Tief durchatmen, einatmen, ausatmen.
Klappt nicht. Mist. Schalte den Kopf aus, los! Immer entlang der
Aare. Km 96 noch 4. Ah, jetzt noch eine Blase am anderen Fuß.
Wegatmen los! Km97 noch 3, km 98 noch 2, der Countdown läuft...
Tränen laufen mir die Wange hinunter. Ich habe es bald geschafft.
Aaaauuuaaa!!! Ich humpele. Jetzt ist diese verblödete Blase
aufgegangen. Oh nein, bong... bong.. .klopf... klopf... Kopf
ausschalten, wegatmen! Los mach schon. Geht doch... Da km 99. Ich
frage zwei Damen die auf der einer Bank sitzend das Geschehen
beobachten, ob sie bitte ein Foto machen können. Sofort haben sie
sich bereit erklärt und vorsichtshalber zwei Fotos geschossen und
mir noch viel Glück für die letzten Meter mit auf den Weg gegeben.
KM
99 "Cheese" nur noch 1.000 m |
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99km! Das ist ohne Worte. Tränen rollen schon wieder. Reiß dich
zusammen! Vielleicht, vielleicht kannst du doch noch mal... Am
Schluss vielleicht, es käme auf einen Versuch an. Noch ein paar
Wegschlenker. Dann die vorletzte Kurve, ein paar Zuschauer,
applaudieren und rufen "bravo" und "auf geht's". Ja, auf geht's! Und
dann sagte ich: "Jaaaa, auf geht's!" Und ich lief, ich joggte
in kleinen schnellen Schritten Richtung Ziel und lachte vor mich
hin. Ja. Ja. Ja. Ich konnte den blauen Teppich schon sehen und da
auf der rechten Seite? Da stand mein Mann und winkte mir zu. Der
Moderator rief meinen Namen auf, ich hob die Faust zum Sieg, riss
beide Arme hoch und sagte laufend: "Ich hab's geschafft, ich hab's
geschafft!!!!!!!!"
Zieleinlauf, ich hab's geschafft |
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Zieleinlauf von hinten, auch nicht schlecht |
Nach dem Zieleinlauf wurde sofort mein wohlgehüteter Chip
abgeschnitten und ich bekam meine Medaille. Wieder ein
Verpflegungsstand, hahaha. Ich nahm dieses Mal nur eine Iso-Pfirsich
zu mir und suchte Markus. Glücklich dass er da war umarmte ich ihn.
Dann holte ich mein Finishershirt ab und genoss eine heiße Dusche.
Welch eine Wohltat!
Nachdem ich wieder frisch und umgekleidet war, traten wir sofort die
Heimreise an. Eine Abschlussparty gibt es ja nicht wie auf dem
Rennsteig. Aber ich glaube, dazu hätte ich jetzt auch keine Lust.
Schuhe? Dieses Mal Badelatschen. Ich glaube so große Blasen an
meinen Füßen, hatte ich noch nie. Meine Beine sind schwer und die
Füße sind so geschwollen, dass ich keine Knöchel mehr sehe. Aber
egal, jetzt ist Regeneration angesagt. Das war ein wirkliches
Abenteuer für mich mit vielen Facetten. Es war "fast" bis an meine
Grenzen. Viele neue Erfahrungen und Fehler aus denen ich, wieder
einmal, gelernt habe. Leider habe ich nicht viele Fotos gemacht. Im
nachhinein ärgert mich das. Aber auf der Strecke, war mir nicht
danach, da war ich sehr mit mir selbst beschäftigt.
Ich bin stolz eine 100km-Läuferin zu sein. Es war nicht das letzte
Mal, trotz Schmerzen und Leid.
Mal sehen, welches Abenteuer das nächste sein wird.
Eure Susan
Infos:
www.100km.ch
(Finisher: 1.052 davon 15% Frauen)
Links:
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