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Letzte Änderung: 16.05.2013

Lächeln bei km99: Glücksgefühle

53. Biel 100km

am 17./18.06.2011





(Bericht: Susan Ortiz)

 

Mein Tortoürchen - Nacht der Nächte - Das 1. Mal

 

Nachdem der Rennsteig zum Vergangenen zählte und ich wieder laufend durch meine Felder unterwegs war, musste ich mich auf mein ganz großes Ziel für dieses Jahr, nämlich Biel einstellen. Warum gerade Biel?
Ich wollte mich auf jeden Fall an einem 100km-Lauf versuchen. In Biel hat man als Zeitlimit 21 Std. und es hat die wenigsten Höhenmeter, nur 645 m. Und außerdem heißt es ja immer "Einmal musst du nach Biel". Es soll eine tolle Veranstaltung sein, war aus den "tausenden" Berichten zu lesen.

 
Hallo liebe Läuferfamilie,
 
ein großes Ziel für dieses Jahr ist vollbracht. Es war sehr hart, ein Tortoürchen für mich, aber geschafft. So viele neue Gefühle! Unglaubliches.... nie Dagewesenes... Schmerzen.... Weinen..... Verzweiflung........ Glücklich sein!
 
Mental gut drauf, fuhren mein Mann Markus und ich, bereits am Donnerstag los. Es sollte dort eine Campingwiese geben. Dieses Mal fand die Veranstaltung nicht beim Eisstadion statt, wie all die vielen Jahre davor. Dieses Mal sollte alles direkt am See und publikumsnäher sein. Nach langem Suchen fanden wir den großen Parkplatz für die Camper und die Zeltwiese am Strandbereich (Bieler See). Ein großes Veranstaltungszelt war aufgebaut. Da wir in unserem Auto schlafen wollten, suchten wir uns ein Plätzchen auf dem Parkplatz. Und was soll ich sagen, es regnete in Strömen. So saßen wir in unserem Auto und warteten, ein wenig frustriert, bis dieser Regen aufhörte.

Großer Platz für die Wohnmobile

Das Veranstaltungszelt

Der große Platz sollte sich am nächsten Tag tatsächlich noch füllen

Stand für die Startunterlagen
Wir bereiteten unseren Schlafplatz vor. Nachdem es aufgehört hat zu regnen, erkundschafteten wir die Gegend. Zuerst den Expo-Platz, hier fand die Veranstaltung statt mit Zelt und Zielbereich, Duschen und Toilettenwagen. Der Startbereich war in der Stadt beim Kongressgebäude. Alles war gut mit Schildern markiert und so fanden wir den Startplatz schnell, ein kleiner 12 Minuten Weg ins Stadtinnere. Am Expo-Platz war der Kinderlauf voll im Gange. Ansonsten war kein Programm zu finden, keine Musik wie beim Rennsteig, keine Party, nichts. So sollte es auch die nächsten Tage sein. Es gab Messestände und den Bereich an dem man seine Startunterlagen abholen konnte, Infostand und Massagepunkt, Sanitäter und Umkleide. Ich reihte mich in die Schlange, um meine Startsachen abzuholen. Dieses Mal gab es keinen Chip für den Schuh, sondern der Zeitchip befand sich mit zwei Tackernadeln an der Startnummer. Oje, hoffentlich verliere ich den Chip nicht. Denn ohne Chip keine Zeitnahme. Na großartig, das heißt schon wieder Stress, große Aufmerksamkeit auf das Startnummernblatt. Und die Preise: Wow, 10 Schweizer Franken für Spaghetti mit Soße. Ist halt Schweiz. Nachdem wir uns die Pasta hatten schmecken lassen und ein Schweizer Bier, gingen wir in die wohlverdiente Nachtruhe, denn die nächste Nacht wird bestimmt nicht ruhig.
 
Am nächsten Morgen füllte sich der große Parkplatz und immer mehr Teilnehmer mit ihren Wohnmobilen und Zelten trudelten ein. Wir ließen uns unseren selbstgemachten Kaffee in der Sonne neben dem Auto schmecken und chillten den ganzen Tag. Das ist vielleicht ein Gefühl, nur chillen, kein Kind, kein Hund, kein Kegel. Auch sonst stört nichts, nicht viel reden, einfach nur die Sonne ins Gesicht scheinen und die Seele baumeln lassen. Hach genial! Dann präparierte ich meine Streckenkarte. Ich markierte die Punkte, an denen es eine Toilette gibt und bei welchen KM eine Steigung kommt. So gerüstet, dachte ich, passt das schon.

Hach wie schön, die letzten Sonnenstrahlen genießen!

Paßt! Und ab in den Rucksack damit
Meine Arbeitskollegin schickte mir eine SMS, dass sie in Gedanken bei mir ist und ich gesund ins Ziel kommen soll. Wie schön, danke! Eine sehr willkommene Motivation. Gleichzeitig gab sie mir den letzten Stand des Wetterberichtes: Na bravo, Regen in der Nacht und am Morgen und das nicht zu knapp. Super. Was mache ich nur, was ziehe ich an? Welche Schuhe? Ich bin hin und her gerissen. Soll ich meine Goretex-Schuhe anziehen? Aber das sind Trailschuhe. Oder doch lieber die normalen Laufschuhe und dann im Schuh schwimmen? Oh Mann, keiner da, der mir noch ein paar Tipps geben kann. Gegen 18 Uhr gingen wir ins Zelt zum Abendessen. Da begegneten wir Bernhard Sesterheim. Endlich konnte ich meinem Vorbild mal persönlich die Hand drücken und ein Pläuschchen halten. Ich fragte ihn, ob er mir einen Tipp zwecks der Schuhwahl geben könnte. Er riet mir sofort von den Trailschuhen ab: "Du bekommst sowieso Blasen, also ist es egal". Hm...?
Ich hatte die Möglichkeit im Kopf, dass man hier einen Beutel abgeben kann, der wird von der Armee nach Kirchberg (56km) gefahren. So kann man z.B. Kleidungstücke oder Schuhe oder was Mann/Frau sonst so braucht dort hinbringen lassen und wenn nötig, sich umziehen. Ich informierte mich über die genaue Vorgehensweise am Infostand und überlegte noch einmal, was ich denn am besten tun sollte.

Danach stellten wir uns in die große Schlange zur Essensausgabe. Ich entschied mich noch einmal für Pasta. Auf jeden Fall konnte ich essen, nicht so wie 2010 in Ulm, da hatte ich keinen Bissen runter bekommen und das rächte sich dann. Nach frischer Stärkung gingen wir zurück an unseren Chillplatz. Und was passierte dann? Ihr werdet es kaum glauben, es fing wieder an zu regnen. Nein, das ist doch jetzt nicht wahr. Schon wieder! Aber das wird nicht das letzte Mal sein, dass ich das denke bzw. sage :-(   Dann überkam es mich, ich packte meinen Beutel mit meinen normalen Laufschuhen und Ersatzkleidung und gab ihn ab für Kirchberg. Ich wollte nicht schon die ersten 50 km mit völlig durchnässten Füßen laufen. - Der Regen hatte wieder aufgehört, ab und an tröpfelte es. So gegen 20 Uhr machte ich mich startklar. Der Platz füllte sich, die Schlangen an den Toilettenwagen wurden länger und ein Gewusel von Teilnehmern, Fahrradfahrern, Familienmitgliedern und Freunden machten sich auf den Weg zum Start. Um 21 Uhr machten wir uns auf in die Stadt. Eine große Menschenmenge sammelte sich am Startplatz.

Startplatz

Billy Biene -mein Maskottchen- ist natürlich dabei, hoffentlich klappt alles!

Alle warten gespannt...

...auf den Startschuss
Ich suchte mir ein Plätzchen weit am Ende, wollte nicht überrannt werden. Für mich war nur finishen das Ziel. So wartete ich angespannt auf den Startschuss. Dann der Countdown und ab ging die Post. Kein Gedrängel, die meisten liefen langsam los. 5 km ging es durch die Stadt. An einigen Stellen gab es mehr Publikum, das uns anfeuerte als an anderen.

Durch die Stadt Biel

Erwischt vor dem Comet
Auch hier sagte ich mir, lass dich nicht aufpuschen, du willst noch 100 km laufen. Immer langsam auf der Strecke! Dann der erste Anstieg, alle walkten hinauf. Naja, Ausnahmen gab es. Aber da habe ich auf die Startnummer geguckt, meistens stand darauf "21,1 km" oder "Marathon 42,2 km". Die unterschiedlichsten Läufertypen sind unterwegs. Vor mir läuft wahrhaftig jemand barfuss, Wahnsinn! Einige Läufer sind mit Regenschirmen unterwegs. Da plötzlich, husssssssssccccchhhhhhhh, was war das? Wie ein Tiefflieger. Aha, das war einer von einer Stafette. Auf den ersten 40 km hat man alles was Beine und Stöcke hat mit auf der Strecke. Da darf man sich nicht von der Schnelligkeit anstecken lassen. Die Stöcke allerdings waren manchmal nervig. Zu zweit nebeneinander quasselnd, auf schmalen Wegen, da geht einem 100km-Läufer schon manchmal der Gaul durch. Man kommt in keinen Rhythmus rein. Da war man wirklich froh, nach 40km endlich alleine zu sein. Achtung, Chip noch dran? Puh, alles in Ordnung.

Die erste Getränkestelle war bereits in der Stadt Biel selbst. Es gab Wasser, Tee, und Energygetränk in verschiedenen Geschmacksrichtungen, ebenso bei allen folgenden Verpflegungsstellen. Die Strecke führte durch Felder, Wälder und Wiesen. Aber der größte Anteil war Asphalt, durch Dörfer oder auf Landstrassen. Die meisten waren gesperrt oder nur wenig befahren. Achtung, Chip noch dran? Alles in Ordnung.
 

Ah, da ist Aarberg, der berühmte Punkt mit der Brücke und dem blauen Teppich. Der Punkt, der Gänsehautfeeling habe, laut vielen Läuferberichten. Aber, das war für mich garnicht der Fall. Es waren nur wenige Zuschauer und es war verhältnismäßig still. Na ja, die geiern nur nach den Profis und Durchfliegern, und vergessen die Normalis völlig. Egal, weiter geht es.

Ups, die Brücke nur schemenhaft.
Da habe ich nicht lange genug still gestanden
 
Die Laufstrecke ist in 3 Teilstrecken unterteilt: 1. Teilstück bis 38 km bei Oberramsern, 2. Teilstück bis Kirchberg 56 km und das 3. Teilstück 76,5 km bei Bibern. Hier hat man die Möglichkeit auszusteigen und dennoch eine Wertung zu erhalten. Ein Postbus fährt die Personen wieder nach Biel zurück. Und der Regen? Es war furchtbar: Regen, Regen, nichts als Regen! Mal schwächer und mal stärker. Auf einem Feldstück war so ein starker Sturm, dass ich mich dagegen stemmen musste um nicht umgerissen zu werden. Na, das konnte ja heiter werden. Und patsch, nächste Pfütze, auch wieder mir. Trotz Stirnlampe konnte ich nicht alle Pfützen erfassen. Ach wie herrlich, trotz Goretex-Schuhen jetzt schon nasse Füße. Grrrrrrr! Und, Chip noch dran? Uff, alles in Ordnung.
 
Dann wieder eine Verpflegungsstelle. Ab KM 20 gab es sogar Bouillon. Da ich beim Rennsteig ja schon den Fehler machte zu wenig zu essen oder Salziges zu mir zu nehmen, wollte ich dieses Mal nicht denselben Fehler machen. Ich freute mich auf Suppe. Außerdem las ich in einem Läuferinbericht, dass sie es so gut geschafft habe, weil sie bei jeder Verpflegungsstelle 1/2 Becher Wasser, 1/2 Becher Bouillon, 1 Päckchen Gel, 1/2 Becher Cola + 1/2 Becher Wasser zu sich genommen hatte. So wollte ich es auch tun. Klappte auch, nur mit dem Erfolg, dass ich ständig auf Toilette musste! Eigentlich sollten ausschließlich die aufgestellten Toiletten genutzt werden. Aber das funktionierte überhaupt nicht. Leider musste Feld und Wald auch daran glauben. Aber dann im Hellen sah ich, dass ich da nicht alleine war. Mit der Festnahrung, das hatte ich mir anderes vorgestellt. Es gab trockene Brotstreifen und kleine Teile Energieriegel in jeglicher Form, und Gel. Dann gab es Bananenstücke, ab und an Apfel- und Orangenstücke. Da ich Bananen nicht vertrage beim Laufen, freute ich mich auf Apfelstückchen und Orangen. Für ein Butterbrot hätte ich viel gegeben. Vielleicht sollte ich mir das nächste Mal eines vom Rennsteig aufheben und mitnehmen :-)   Egal, trockenes Brot tut's auch, würg. Etwas trocken. Und Wasser drauf. Bei jeder Verpflegungsstelle ließ ich mir gemütlich Zeit und aß in Ruhe. Auch hier sind einige, sogar ältere Läufer, an den Stand gerannt, mich weggeschubst und schnell, schnell, schnell weitergelaufen. Na ja, wenn's schee macht? Oh Gott, Chip noch dran? Bffff, alles in Ordnung.
 
Weiter geht's durch die Nacht. Ab KM 30 merke ich, dass ich Schienbein- und Knieschmerzen bekomme. Oh Mann, was ist denn das jetzt? Bernhard, hat mal wieder Recht behalten. Jetzt darf ich mich noch 26 km quälen bis Kirchberg. Gott sei Dank, habe ich meine Schuhe dort deponiert. Also Schmerz wegatmen. Zu was so ein Geburtskurs alles gut ist. Ist zwar sehr lange her, aber ich erinnere mich noch... Also hecheln und wegatmen. - Hallo Kühe! Ja, ich weiß, wir sind wieder die Verrückten. Wie jedes Jahr im Juni :-)  Huch, was fliegt denn da über meinen Kopf? Eine Fledermaus begleitet uns auf der langen Landstrassenstrecke. Und im Schein meiner Stirnlampe sehe ich immer wieder Frösche auf der Strasse sitzen. Jetzt wird mir kalt, die Müdigkeit kommt durch. Es ist 3 Uhr morgens. Kein Mondlicht, nur Wolken, alles trostlos. Aber die Lichterkette der Läufer in der Ferne, das hat was! Nein nicht schon wieder! Und wieder keine Toilette weit und breit. Man krieg es doch aus dem Kopf... bong... bong... aus dem Kopf: Du musst nicht, alles ist gut. Man jetzt krieg doch endlich andere Gedanken...

Piep! Was war das? Oh nein, mein Handyakku ist fast leer. Nein, dann kann ich Markus nicht anrufen, wann ich wo bin... Bong... bong... klopf klopf an meinen Kopf: Nein, du musst jetzt nicht schon wieder in die Büsche. Nein, das blöde Handy. Aahhh, Gott sei Dank da ist ein Rapsfeldende. Erlösung. Und Chip noch dran? Alles in Ordnung. Mensch, do blöder Kopf mit deinem blöden Chip du nervst.

KM 50, die Hälfte geschafft!
 
Weiter. Durchhalten, bis km56. Durchhalten. Oh Mann was für Schmerzen. Aber es wird bestimmt besser, wenn ich dann die anderen Schuhe anhabe. Es wird alles gut! Langsam wird es hell. Ob man jetzt ein bisschen mit den anderen Läufern reden kann? So wie beim Rennsteig, da ging die Zeit so schnell rum. Aus Bernhards Bericht weiß ich, dass man am besten in der Nacht niemanden anspricht. Deshalb habe ich es auch gelassen. Aber jetzt ist es bald hell. Ich versuche es mal. Da überhole ich wieder jemand:" Guten Morgen!", versuche ich mit fröhlich leisem Ton ein Gespräch einzuleiten. "Guten Morgen" kam es zurück. Mit dem Unterton, lass mich in Ruhe. Na gut, ich versuche es beim Nächsten. Aber dasselbe Ergebnis. Ok, dann eben nicht. Dann muss ich wohl noch warten. Oh... meine Knie! Welch ein Schmerz. Meine Waden... ich glaube ich bekomme einen Krampf. Meine Beine spüre ich fast nicht mehr, es ist soooo kalt. Nach 8,5 Stunden erreiche ich Kirchberg.

Kirchberg, hier kann man aussteigen mit Wertung.
Dann bitte nach rechts ab. Neeeeeeee!

Ab km56 mit frischen Füßen.
So, jetzt noch Verpflegung
Jaaaaaaaaaaa. Endlich! Schuhe wechseln. Ah, wie gut das tut. Und die Socken? Jo, die wechsele ich auch gleich. Das war doch ein Fehler. Und eine saubere Toilette, herrlich! Dann noch trinken und essen. Auch hier verweile ich einen Augenblick, trinke ausreichend (hallo ihr Felder ich komme gleich) und nehme mir ein paar Apfelstücke mit auf den Weg. Achtung, Chip noch dran? Jaaa, alles ok.

Jetzt geht es für 12 km auf den Emmendamm, den sogenannten Ho-Chi-Minh-Pfad. So viel habe ich darüber gelesen, da bin ich mal gespannt. Stimmt! Zuerst ein Weg eingefasst mit Bäumen und Sträuchern. Dann ein schmaler Weg entlang des Waldes und dann alles zusammen mit Wurzeln und Steinen gemixt. Hier wollte ich nicht nachts durchlaufen. Hier ist überholen nicht angesagt. Ich verfolge einfach meinen Vorgänger bis wir hier wieder draußen sind.

Waldweg beginnt, alles noch normal. Ein normaler befestigter Weg, dann...

...die Steigerung, der Weg wird schmal zum Wiesenpfad

Tolle Aussicht, alles Grau in Grau

Und jetzt "Ho Chi Minh": Schmal, Steine und Wurzeln...

...und dann Asphalt. Eben ein richtiger Damm
 
Wieder eine Verpflegungsstelle. Nette Menschen warten hier auf uns. Ein Lächeln kommt rüber: Und es geht mir gleich besser. Alles aufgetankt, getrunken und gegessen, es kann weiter gehen. Und es regnet wieder! Chip noch dran? Ups, ja alles in Ordnung. Aber er hängt mittlerweile runter da das Startblatt durchnässt ist.
 
Es geht einige Kilometer einer Landstrasse entlang. Mir ist kalt, meine Zähne klappern. Was soll ich nur machen? Mir wird überhaupt nicht mehr warm. Mensch, ich habe doch noch meine Armlinge und meine Handschuhe im Rucksack! Artig hatte ich sie in einer Plastiktüte im Rucksack verstaut, sonst wären sie jetzt nass. So konnte ich sie mit einigem Gewurschtel während des Laufens anziehen. Ach, ein bisschen besser. Eine Zeit lang geht das gut. Bei Km 70 ist alles vorbei.
Ab KM 70 wird die Kilometerzahl angezeigt, die man noch vor sich hat.
Rückwärts zählen soll motivieren.
 
Ich rechne aus, wie lange ich noch brauche. Aber ich kann Markus doch garnicht mehr anrufen! Wie mache ich das bloß? Soll ich jemanden Fremdes fragen und zuhause den Kindern Bescheid geben, Markus eine SMS schicken? Das kann ich doch nicht machen. Mir ist soll kalt, ich bin müde und ich spüre meine Beine nicht mehr. Bis km 80 werde ich mich noch durchschleppen können. Ich gebe auf...

Nein, das kannst du doch nicht machen! So viele Menschen sind mit dir in Gedanken und drücken dir die Daumen. So ein Blödsinn! Du bist schon soweit gekommen. Mein Schweinehund hat im Moment wirklich die Oberhand. Bei km 76 könnte ich mit Wertung aussteigen? Oh Mensch, ich bekomme gleich ein Krampf. Locker, bleib locker, schüttle die Beine und atme. Du hast keine Schmerzen, nein du hast keine Schmerzen! -  Es geht weiter. Zu jedem an dem ich vorbei laufe, sage ich "Hallo". Aber keiner will reden. Dann wieder eine abgesperrte Kreuzung, ein Polizist ruft uns "Bravo" zu, und: "jetzt bist du 2 Jahre jünger". Ich muss lachen. Eigentlich fühle ich mich wie 2 Jahre älter. Aber er hat mich wieder ein bisschen aufgemuntert. Km 76 Bibern. Ich trinke wieder alle Getränke in mich hinein, esse trockenes Brot (würg) und wieder Wasser hinterher, ein paar Apfelstücke mit auf den Weg. Und der Chip noch dran? Jaa, alles ist in Ordnung.
 
Und weiter geht's, sofort bergauf. Puh, aber es geht. Wo es bergauf geht, da muss es auch wieder bergab gehen. Dann könnte ich ja wieder mal laufen und es vielleicht es ein wenig rollen lassen. Oben angekommen, versetze ich meine Beine in Lauftempo. Ach du liebe Zeit! Stopp, stopp! Au au, das geht garnicht! Aus! Vorbei! Schienbeinschmerz, Knieschmerz... Oh mein Gott! Ich bin völlig entmutigt. So ein Mist, jetzt geht nichts mehr mit Laufen. Wenn ich mich umschaue, registriere ich, dass keiner mehr läuft. Alles walkt nur noch. Na dann bin ich doch in bester Gesellschaft.

Was ist das? Trap trap trap. Ein Läufer? Mensch ist das nicht Rafael vom Team Bittel? Ich bin mir nicht sicher. Vielleicht halluziniere ich gerade. Ich rufe ihm noch ein "super" hinterher. Aber er ist, glaube ich, in völliger Trance (im Nachhinein stellte sich heraus, dass es wirklich Rafael war). Da 80 km. Cool! So weit bin ich noch nie gelaufen! Erfolgserlebnis, wenn der Regen nicht wäre und mich völlig deprimieren würde... Wieder eine Verpflegungsstelle. Dieses Mal muss ich wieder Cola trinken. Das habe ich das letzte Mal nicht gemacht und ich bin müde. Es schüttet aus Eimern. Oh, ich wollte viele Bilder machen! Aber mir ist nicht danach, der Regen, die Kälte, ich habe keine Lust. Mittlerweile laufe ich schon eine ganze Zeit hinter einer Nordic-Walkerin her. Sie hat ihren "Coach" dabei. Einige Teilnehmer lassen sich von einem Freund oder Familienmitglied mit dem Velo (Fahrrad) begleiten. Ich bin froh, dass ich niemanden neben mir habe. Das würde mich nur nerven. Ich bin alleine mit mir und meinem Schmerz. Oh nein, wieder daran gedacht.. aua... aua... Schalte deinen Kopf einfach aus und walke. Ok, ok! Ich werfe meinen MP3-Player an und freue mich über meine Musik. Dann fällt mir Ulm vom letzten Jahr ein. Da gab es eine Walkerin, die war hinter mir und hatte mich überholt. Sie walkte so richtig mit schwingenden Armen, war eine taffe Lady. Und dann der Rennsteigler, der hat am Schluss auch so richtig gewalkt und das habe ich auch nachgemacht. Weißt du was, das machst du jetzt auch so. Ich mache meine Musik laut und denke: "So jetzt reicht es, ab geht's"!  Wow, was das eine Power bringt. Das geht ja richtig ab. Jaaa, ich bin wieder da! So das 90km-Schild kann kommen. Lalalala, dann ist es nicht mehr weit. Da, da vorne ist doch schon ein Schild... Yippieeeh! Oh nein, ich bin ja erst bei 85km. Egal, mir geht es gut. Patsch, grrrrrr, wieder eine der tausend Pfützen und wieder nasse Füße. Es geht eine lange Strecke an der Aare entlang. Achtung, Chip noch dran? Ja, alles ok.

KM 85 nur noch 15 km. Links kann man den tollen Matscheweg sehen
 
Hier ist normalerweise ein befestigter Weg, aber heute ist durch den Regen alles aufgewühlt. Entweder hat man Matsch oder Pfützen, sehr motivierend. Nicht hängenlassen, Arme kräftig bewegen, so wird mir warm. Da vorne sind wieder ein paar Läufer. "Hallo" sage ich mit Grinsgesicht. "Hallo" mit Unterton kommt zurück. Ok ok... habe verstanden. Wegen mir, dann überhole ich euch halt. So, das habt ihr nun von eurer Muffelei. Da vorne wieder ein paar Läufer. Das gleiche Spiel und derselbe Unterton. Ja ja... schon gut. Ich überhole und überhole. Einen nach dem anderen. Außer wenn ich mal wieder zum hunderttausenden Mal ins Feld huschen muss. Dann passiert es, dass ich wieder überholt werde und ich mich dann wieder von hinten anschleiche. Hahaha...

KM 90
 
Dann KM 90. "Wou-wou-wou" würde Julia Roberts (Pretty woman - Pferderennbahn) jetzt sagen. Nur noch 10 km. Und ich kann Markus nicht erreichen. Mensch, jetzt sieht es so gut aus, dass ich es schaffe. Vielleicht hilft Telepathie. Ich denke ganz fest an meinen Mann, vielleicht klappt es ja. Weiter immer weiter. Oh wie schön, die Sonne kommt raus, auf den letzten Kilometern. Es wird sogar ein bisschen warm. Wieder eine Verpflegungsstelle. Ein Schild zeigt an "Letzter Batteriewechsel - noch mal ein letztes Mal auftanken". Alles nach Plan schütte ich in meinen Bauch. Weiter geht's! Dann das Schild 95km. Jaaa, jetzt zählen die Schilder in einzelnen Kilometern rückwärts. Chip? Ja, ist auch noch dran!

KM 95 Finishline, Finishline, nur noch 5 km
 
Ich bin gut drauf, höre meine Musik, walke kräftig mit den Armen und grinse vor mich hin. Ich räume das Feld von hinten auf. Immer wieder kommen mir Spaziergänger entgegen und klatschen und rufen "bravo" oder "super Leistung". Mir geht's so gut, so gut, so gut, dadadada. Auuuua! Was war das denn jetzt. Oh nein, Blase! Ich habe eine Blase an der Ferse! Das kann doch nicht wahr sein! Ich hatte noch nie Blasen. Ok, Bernhard hat Recht. Jetzt muss ich diese Schmerzen auch noch aus dem Kopf streichen. Tief durchatmen, einatmen, ausatmen. Klappt nicht. Mist. Schalte den Kopf aus, los! Immer entlang der Aare. Km 96 noch 4. Ah, jetzt noch eine Blase am anderen Fuß. Wegatmen los! Km97 noch 3, km 98 noch 2, der Countdown läuft... Tränen laufen mir die Wange hinunter. Ich habe es bald geschafft.

Aaaauuuaaa!!! Ich humpele. Jetzt ist diese verblödete Blase aufgegangen. Oh nein, bong... bong.. .klopf... klopf... Kopf ausschalten, wegatmen! Los mach schon. Geht doch... Da km 99. Ich frage zwei Damen die auf der einer Bank sitzend das Geschehen beobachten, ob sie bitte ein Foto machen können. Sofort haben sie sich bereit erklärt und vorsichtshalber zwei Fotos geschossen und mir noch viel Glück für die letzten Meter mit auf den Weg gegeben.

KM 99 "Cheese" nur noch 1.000 m
 
99km! Das ist ohne Worte. Tränen rollen schon wieder. Reiß dich zusammen! Vielleicht, vielleicht kannst du doch noch mal... Am Schluss vielleicht, es käme auf einen Versuch an. Noch ein paar Wegschlenker. Dann die vorletzte Kurve, ein paar Zuschauer, applaudieren und rufen "bravo" und "auf geht's". Ja, auf geht's! Und dann sagte ich: "Jaaaa, auf geht's!"  Und ich lief, ich joggte in kleinen schnellen Schritten Richtung Ziel und lachte vor mich hin. Ja. Ja. Ja. Ich konnte den blauen Teppich schon sehen und da auf der rechten Seite? Da stand mein Mann und winkte mir zu. Der Moderator rief meinen Namen auf, ich hob die Faust zum Sieg, riss beide Arme hoch und sagte laufend: "Ich hab's geschafft, ich hab's geschafft!!!!!!!!"

Zieleinlauf, ich hab's geschafft

 

Zieleinlauf von hinten, auch nicht schlecht
Nach dem Zieleinlauf wurde sofort mein wohlgehüteter Chip abgeschnitten und ich bekam meine Medaille. Wieder ein Verpflegungsstand, hahaha. Ich nahm dieses Mal nur eine Iso-Pfirsich zu mir und suchte Markus. Glücklich dass er da war umarmte ich ihn. Dann holte ich mein Finishershirt ab und genoss eine heiße Dusche. Welch eine Wohltat!
 
Nachdem ich wieder frisch und umgekleidet war, traten wir sofort die Heimreise an. Eine Abschlussparty gibt es ja nicht wie auf dem Rennsteig. Aber ich glaube, dazu hätte ich jetzt auch keine Lust. Schuhe? Dieses Mal Badelatschen. Ich glaube so große Blasen an meinen Füßen, hatte ich noch nie. Meine Beine sind schwer und die Füße sind so geschwollen, dass ich keine Knöchel mehr sehe. Aber egal, jetzt ist Regeneration angesagt. Das war ein wirkliches Abenteuer für mich mit vielen Facetten. Es war "fast" bis an meine Grenzen. Viele neue Erfahrungen und Fehler aus denen ich, wieder einmal, gelernt habe. Leider habe ich nicht viele Fotos gemacht. Im nachhinein ärgert mich das. Aber auf der Strecke, war mir nicht danach, da war ich sehr mit mir selbst beschäftigt.
 
Ich bin stolz eine 100km-Läuferin zu sein. Es war nicht das letzte Mal, trotz Schmerzen und Leid.
Mal sehen, welches Abenteuer das nächste sein wird.
 
Eure Susan


Infos:
www.100km.ch  (Finisher: 1.052 davon 15% Frauen)


Links:

Biel 2011: Erlebnisbericht von Bernhard Biel 2010: Gedanken von Manfred
Biel 2010: Bildbericht von Heike  

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