Als Jörg Kaschner und ich bei dem eine gewisse Bedeutung habendem
Ort Krautergersheim, 20 km südlich von Straßburg, die links und rechts
neben der Autobahn gelegenen endlos anmutenden Felder mit werdendem
Sauerkraut wahrnehmen, zeigt das Thermometer meines Pkw 32°C. Man
könnte meinen, wir befänden uns in der Republik Kongo, wären da nicht
die riesigen Gemüseplantagen, deren Erzeugnisse einst die Engländer
veranlasste, uns Deutschen fälschlicherweise den Spitznamen „the krauts“
zu geben. Denn das Sauerkraut wurde im Elsass, also in Frankreich
erfunden und kommt dort sehr häufig auf den Tisch. Nachdem ich bei einer
Rückreise von Biel in Colmar in einem guten Restaurant von gedünstetem
Lachs auf Sauerkraut geschmacklich begeistert wurde, kommt dieses
Gericht bei uns im Herbst und Winter regelmäßig auf den Speiseplan. Ja,
es ist schwülheiß, die Wettervoraussager haben jedoch Starkregen
angekündigt. Wie oft haben sich diese Regenankündigungen in den letzten
Wochen als Falschansagen erwiesen, denke ich gerade und bereite mich
mental auf einen weiteren schweren Lauf unter tropischen Bedingungen
vor.Als ich 30 km südlich von Basel erstmals das
Hinweisschild „BIEL“ wahrnehme, beginnt der innere Schweinehund
mit mir zu reden: “Dummkopf, Du weißt inzwischen, was Dich bei dieser
Hitze dort erwartet! Du wirst die Nacht wieder stöhnen!“ Minutenlang
trage ich ein ungutes Gefühl in mir, doch es gelingt mir schnell, mich
durch lustige Gespräche mit meinem Gefährten Jörg abzulenken. Wir
erreichen die Autobahnausfahrt Biel-Nord und biegen rechts ab, fahren
ganz in der Nähe des früheren Start- und Aufenthaltsplatzes an der
Eisbahn vorbei in Richtung Neuchatel.
Wehmütige nostalgische Gefühle keimen kurz auf.
Nach einigen Irrungen und Wirrungen erreichen wir die Stelle in
unmittelbarer Nähe des Bieler Sees, wo jetzt sich die
Startnummernausgabe, das Ziel und der Campingplatz für die Teilnehmer
befindet. Sofort kann ich die ersten Laufbekanntschaften begrüßen und
nehme mit Freude Glückwünsche für den von mir organisierten und bei den
Teilnehmern gut angekommenen 120 km langen
Etappen-Landschaftslauf im Hunsrück
(sh-supertrail.de)
entgegen. Einige entschuldigen sich sogar dafür, dass sie sich dort
nicht angemeldet hatten.
Mit Plaudern, Sprüchemachen und Prahlen über
vergangene Laufabenteuer in meinem großen Bekanntenkreis vergeht die
Zeit viel zu schnell. Es ist Donnerstagnachmittag und die Sonne brennt.
Meine Arme und Beine sind starke Sonneneinstrahlung mittlerweile
gewöhnt, aber gegenüber meinem Gesicht verhält sich die Sonne nach wie
vor sehr feindselig. Für manche habe ich jetzt eine außerordentlich
„gesunde Gesichtsfarbe“. Bei starken Alkoholikern sieht man leider
solche Rotgesichter häufig.
Eine Stunde vor Startbeginn sind wir, Jörg Kaschner,
Heinz-Peter Schüller und ich am Ausgangspunkt der bevorstehenden
nächtlichen, morgendlichen (und für Heinz-Peter und mich sogar
nachmittäglichen), langen Fußreise angekommen. Neben mir macht gerade
ein sehr schlanker Läufer so um die 40 Jahre gänzlich ohne Socken und
Schuhe Dehnübungen. Es ist derselbe, den ich vor 2 Jahren auf dem
Emmedamm bei 62 km überholt hatte, und der aus vielen hundert
Schnittwunden an den Füßen blutete.
Lautstark ertönt Musik und aufgekratzt und voller
Tatendrang stehen die Läufer, Rennpferden mit scharrenden Hufen gleich
in Startposition. Abwechselnd ertönen aus dem Lautsprecher auf Deutsch
und Französisch Hinweise auf das Rennen. (Durch die Stadt Biel verläuft
die deutsch-französische Sprachgrenze). Der Count Down erfolgt, das
Rennen beginnt.
Gemächlich setzen wir uns im letzten Viertel der
Läufermasse in Bewegung. Die Laufzeit spielt für mich überhaupt keine
Rolle. Ich laufe wieder ohne Uhr, und Heinz-Peter, der jetzt zum 3. Mal
versucht, das Rennen im Ziel zu Ende zu bringen, will diesmal auf mich
hören. Nachdem er zweimal zuvor durch „Bisswunden des inneren
Schweinehundes“ veranlasst wurde, vorzeitig aufzugeben. Jörg läuft hier
das 1. Mal und hat naturgemäß großen Respekt vor der Strecke.
Dass es jetzt regnet, kommt mir sogar gelegen,
kühlt es doch meine sonnenverbrannte Gesichtshaut. Diszipliniert langsam
laufen wir 5 km durch die hell illuminierte Stadt, werden von einer
großen Zuschauermenge wie einst in der Römerzeit als Gladiatoren
bejubelt. Ich fühle mich prächtig, und bin froh, wieder hier zu sein.
Wir sind an der Bieler Peripherie angekommen, dort wo es steil nach oben
in Richtung der Ortschaft Jens geht. Mit schnellen Schritten wandern
wir hoch und werden von einigen überholt die den Berg hochlaufen. Sie
vergeuden ihre Kräfte. Es sind halt Lernprozesse, die jeder für sich
selbst machen muss.
Nach Erreichen von Jens sind 10 km überwunden und
der erste Berg ist genommen. Noch immer regnet es. Aber es sind warme
Tropfen, die mir noch immer gut tun, und ich halte es nicht für nötig,
eine Windjacke über mein mittlerweile durchnässtes Baumwolltrikot zu
ziehen. Heinz-Peter verlieren wir aus den Augen. Es ist halt schwer,
einen gemeinsamen Rhythmus zu finden und zu halten. Über flache und
landschaftsmäßig langweilige geteerte Feldwege geht es durch die Nacht.
Es regnet immer stärker und die vielen Pfützen sind bei der Dunkelheit
nicht immer rechtzeitig zu erkennen. Die Schuhe und Socken sind
durchweicht, was das Entstehen von Fuß- und Zehenblasen unausweichlich
werden lässt. Ach, an Blasen ist noch keiner gestorben.
Die legendäre Holzbrücke von Aarberg ist nach 18 km
erreicht. Und wieder sind trotz strömendem Regen zahlreiche Claqueure
zugegen, die sich mit ihrem enthusiastischem Klatschen und Jubeln
sicherlich mehr anstrengen als wir Läufer. Ich habe meine Kräfte gut
eingeteilt, laufe in meinem Rhythmus, fühle mich ausgezeichnet und bin
sehr froh, wieder an einem großen Rennen teilnehmen zu können. Denn ich
habe eine längere Langlaufabstinenz, die durch eine Verletzung
verursacht wurde, hinter mir. Kurze Zeit später verliere ich Jörg aus
den Augen. Jetzt laufe ich alleine, habe mittlerweile meine Windjacke
übergezogen, die jedoch das Wasser des Starkregens wie Zeitungspapier
durchlässt. Aber noch immer ist der Regen warm. Im Gegensatz zum
Vorjahr, wo ich an dieser Stelle verletzungsbedingt fürchterlich litt,
beginnt jetzt mein „innerer Guthund“ ein Gespräch mit mir. Und er
schmeichelt:“ Ja, Du bist mit Deinen 65 Jahren nicht alt sondern
spätjugendlich, topfit und überaus klug!“ Das sind die Momente des
Langstreckenlaufs, die ich so liebe und bald sind nach einer steilen
Anhöhe 25 km erreicht.
Wie immer gewinnt hier der „innere Schweinehund“
die Oberhand: “Blödmann, Du lernst einfach nicht. Gerade ein Viertel der
Wegstrecke hast Du jetzt hinter Dir. Macht es Dir wirklich Spaß? Genießt
Du das wirklich? Ha ha, Deine Füße brennen, es regnet schon wieder
stärker und es wird kälter. Du wirst diese Nacht noch sehr frieren!
Dummkopf, auch noch ein baumwollenes Shirt trägst Du? Hach, das wird
nicht mehr trocknen. Du wirst Dich erkälten, Du wirst Dich erkälten, Du
wirst….!“ - Er ist sehr einfallsreich und phantasiebegabt, dieser
Schlechthund. Und erfahrungs- und lernresistent, denn er sollte wissen,
dass er mich nicht nachhaltig beeinflussen kann, zumal mir bei meiner
jetzigen 10. Teilnahme eine Goldmedaille winkt.
Auf dem langen Weg nach Oberramsern, dem Ende des
ersten Teilstreckenabschnittes befinde ich mich jetzt und bin sehr müde.
Es regnet noch immer, und tatsächlich sind die Regentropfen kälter
geworden. Roboterhaft schlürfe ich mit meinem bewährten
Ultraschlappschritt voran und überhole einige Konkurrenten, werde selbst
nicht mehr überholt. Und es dauert… Endlich, Oberramsern km 38 ist da.
Ich genieße gleich 3 Becher heiße Bouillon und schütte noch 2 Becher
Coca-Cola hinterher. Mit Freude betrete ich den Massageraum, wo mir
sofort 4 weibliche Hände meine erkalteten Beine durchkneten. Diese sehr
angenehme Prozedur genieße ich in vollen Zügen. Sie dauert über 10
Minuten, wobei ich den aufmerksam zuhörenden und Zwischenfragen
stellenden Masseurinnen in Runner-high-Laune einiges von meinen
exotischen weltweiten Laufabenteuern erzähle. Nächstes Jahr solle ich
wiederkommen und weiter berichten, sagt man mir, nachdem ich von mir aus
die Massage beendete. Und wieder genieße ich Momente des Glücks.
Aber…draußen ist es mittlerweile sehr viel kälter
geworden. Es weht stark der Wind und ich bereue, keine Handschuhe und
langen Laufhosen in meinen Rucksack gepackt zu haben. Jetzt ziehe ich
meine Vliesjacke an unter die durchlässige Windjacke. Bald ist der 1.
Marathon im Kasten. Und trotz der grimmigen Kälte fühle ich mich
wesentlich besser als 2010 und überhole nur. Bei km 45 wird es hell und
hört auf zu regnen. Jetzt lobt mich der Guthund: “Klasse, Bernhard, das
was Du da machst ist einfach großartig. Du bist ein leuchtendes Vorbild
für Gleichaltrige und du musst das wie gehabt weiterhin jedes Jahr tun!“
An den folgenden Verpflegungsständen trinke ich
Wasser und viel Cola und mache mich mit dem Genuss von Bouillon warm.
Gerne würde ich auch Salami-Stücke, wie sie bei solchen Läufen in
Italien und Frankreich angeboten werden, essen. Aber außer etwas Obst
wie Äpfel, Bananen (die ich gar nicht mag) und Orangenscheiben, sind nur
trockenes Brot und Süßigkeiten im Verpflegungsangebot. Anscheinend lässt
sich die Schweizer Rennleitung von dem dümmlichen Kaufmannsspruch „Geiz
ist geil“ leiten, denn für die Startgebühr € 111,00 sollte man mehr
erwarten können.
Am 50km-Schild angekommen, lasse ich wie immer ein
lautes Hurra ertönen und noch immer geht es mir sehr gut. Das 2.
Teilstreckenende km 56 in Kirchberg erreiche ich vollkommen problemlos.
Ganz anders als letztes Jahr, als ich verletzungsbedingt und von
Dauerschmerzen geplagt ankam, und einem über 70-Jährigem, der dort schon
sitzend pausierte, mitteilte, dass ich so spät da noch nie angekommen
wäre. Und sofort musste ich hören: „Na, der Allerjüngste bist Du wohl
auch nicht mehr! Sei froh, dass Du überhaupt noch so gut laufen kannst!“
Nun erscheint Heinz-Peter: „Ja , ich habe mich
soeben massieren lassen, und mir geht es sehr gut! Lasst uns zusammen
laufen. Es ist hell und wir können uns, wie bei der nächtlichen
Dunkelheit geschehen nicht mehr aus den Augen verlieren!“ Mir ist es
Recht. Nach Beendigung einer 20 Minuten dauernden Pause begeben wir uns
auf den weiteren Weg. Wir laufen durch das Industriegebiet von Kirchberg
und gelangen auf den sogenannten "Ho-Chi-Minh-Pfad" (=Emmedamm). Er
stellt eine leicht zu laufende und ebene Trailstrecke von 12 km dar, der
im dichten Laubwald am Fluss Emme entlangführt.
Sehr wohl fühle ich mich und stelle wieder mal
fest, dass Waldläufe auf Naturwegen für mich viel attraktiver sind als
Straßenläufe in bebauten Gebieten. Schließlich erreichen wir den
Emmedamm, einen endlos erscheinenden Teerweg. Und weiter geht's mit
schlürfendem Schritt unter einem wolkenverhangenen Himmel. Es regnet
zurzeit nicht. Unweit vom Damm hören wir das Abfeuern von Sturmgewehren.
Es hört sich an, als kämen wir in die Nähe einer Front. Aber es sind nur
Schießübungen, die die wehrhaften Schweizer an Samstagen immer
betreiben.
Schon über eine halbe Stunde verspüre ich starke
Schmerzen über meinem Gesäß und zwar dort, wo der Rucksack aufliegt.
Durch das nicht trocken werdende Baumwollshirt hat der Rucksack meinen
Rücken blutwund gescheuert. Glücklicherweise gibt es neben der nächsten
Verpflegungsstelle einen Samariter-Platz. (Samariter ist das
schweizerische Wort für Sanitäter). Sie haben etliche Patienten, die sie
gerade behandeln. Ich muss warten. Nach 15 Minuten wird mir dann
fachgerecht die Wunde eingesalbt und mit einem breiten Wundpflaster
überklebt. Ach wie gut, die Schmerzen sind weg!
Frohgemut laufe ich weiter und werde von einem
Läufer mit Fahrradbegleitung überholt. Und was muss ich sehen? Der
Radfahrende trägt eine Startnummer und der Nebenherlaufende bewegt sich
in Straßenschuhen. Auf meinen Zuruf: “Das ist aber nicht fair!“ bekommen
ich nur ein Lachen vom Nebenherlaufenden zu hören. Ich kann mir
vorstellen, dass dies nicht die Einzigen sind, die auf solch dreiste
Weise betrügen. Wäre ich der Veranstalter der Bieler Lauftage, eine
Fahrradbegleitung würde es nicht geben. Warum auch? Es gibt in dichter
Folge Verpflegungsplätze. Immer wieder behindern Fahrradbegleiter andere
Läufer und provozieren wie hier manche zum Betrug.
Ich erreiche Gerlafingen. Von nun an verläuft die
große 100 km- Runde zurück nach Biel zum Ausgangspunkt. Kurz danach ist
das 70-km Schild erreicht und ich hole Heinz-Peter wieder ein, der durch
meinen Zwangsaufenthalt im Samariterzelt mir gegenüber Zeit gewonnen
hatte. Unter dunklem wolkenverhangenen Himmel weht uns ein scharfer,
kalter Wind entgegen. Wieder beginnt es zu regnen. Jetzt aber so wie vom
Wetterdienst angekündigt, sehr heftig und sehr kaltwasserig. Mühevoll
und schweigsam laufen wir hintereinander her. Die Straße ist
kerzengerade und endlos. Eigentlich hätte der Schweinehund jetzt wieder
eine ideale Gelegenheit für einen erneuten Auftritt. Ich lasse ihn nicht
an mich heran, denn ich denke intensiv an vorangegangene Lauffreude
eintrübende Hitzeerlebnisse. Auch meinem Gesichtssonnenbrand tut dieser
„Segen-Regen“ gut.
Endlich kommt Biebern in Sicht. 76 km sind
geschafft und es ist das Ende des 3. Teilstückes, das gewertet wird.
Schnell ergreife ich mir am Verpflegungsstand einige Orangescheiben, die
ich genussvoll esse, hoffend, durch die Einnahme dieser Vitamin-C-Gaben
von Erkältungserscheinungen verschont zu bleiben. Gegenüber der Straße
ist in einer Scheune eine Massagestation mit Bänken und Wolldecken
untergebracht. Auf den Bänken sitzen einige Läufer, für die hier
Endstation ist und die auf den Bus warten, der sie nach Biel
zurückbringt.
Mit einem lautstarken NEIN beantworte ich die Frage
einer Samariterin, ob ich auch abbrechen will. Es sind ja nur noch 24
km, ein läppischer Halbmarathon, eine Kurzstrecke also. Und ich bemühe
mich sehr, an das von mir soeben Hinausposaunte zu glauben. Heinz-Peter
und ich bekommen zum Zwecke der Körperentkühlung jeweils 2 Wolldecken,
eine für die Beine und eine für den Oberkörper. Auch heißer Kaffee wird
serviert. In meiner Wahrnehmung hat sich die Sanitäterin in einen Engel
verwandelt. Schließlich erfahren meine Beine auch noch eine sehr
wohltuende Massage. Die alte Scheune ist zum Paradies geworden, und ich
möchte für immer hier verweilen.
Mittlerweile sind wir schon eine halbe Stunde hier.
Der Wolkenbruch hat noch immer nicht sein Ende gefunden. Viele Läufer
sehen wir am Stand an der gegenüberliegenden Straßenseite Getränke
aufnehmen und ohne Pause weiterlaufen. Jetzt entdecke ich eine mir
bekannte unverwechselbare Gestalt. Ein Bayer würde sagen, dass es ein
gestandnes Mannsbild ist. Mein Lauffreund Frank-Ulrich Etzrodt, den ich
nur gut gelaunt kenne. Aber von guter Laune ist diesmal keine Spur zu
sehen. Auf mein lautstarkes Zurufen kommt er in die Scheune, seine Füße
in Sandalen. Die Schuhe hatte er bei km 56 in Kirchberg abgegeben. Ganz,
ganz schlimme Blasen plagen ihn. Und in der Tat, als die Sanitäterin ihm
die Strümpfe auszieht, kann man gigantische Hautwölbungen erkennen. Mit
schmerzverzerrtem Gesicht lässt der sonst immer strahlende Uli seine
Verwundung behandeln.
Mindestens eine Dreiviertelstunde sitzen
Heinz-Peter und ich in der trockenen Scheuer, auf ein Ende der vom
Himmel fallenden Wassermassen hoffend. Aber es regnet weiter stark. Für
die Natur und Landwirtschaft ist es gut, denn diese Gegend hatte die
gleiche diesjährige Frühjahrstrockenheit zu ertragen wie die unsrige in
Süd-West-Deutschland. Weiter geht es, Uli in Führung und er verkündet,
dass er die steile Anhöhe, die jetzt kommt und die er wie ich sonst
immer gegangen war, jetzt joggend nehmen will, um der Körperkälte durch
Schaffung von Eigenwärme zu entfliehen. Fest stapft er mit seinen
Sandalen auf, und wir folgen ihm nach. Tatsächlich es nützt. Die
schlimme Nasskälte lässt sich durch diese Vorgehensweise leichter
ertragen. Ganz bis zur Bergspitze schaffen wir es nicht. Wir müssen
einige hundert Meter gehen, da der Körper kreislaufbedingte Warnsignale
sendet.
Durch einen Wald führt die Straße jetzt, ziemlich
steil nach untern. Wir laufen mit verhaltenen Schritten. In Arch nach 80
km ist wieder eine VP, wo Heinz-Peter und ich wieder Bouillon trinkend
in einem Zelt eine Kurzrast einlegen. Uli läuft ohne eine Pause zu
machen weiter. Wir verlieren ihn aus den Augen.
Unter einem Tunnel queren wir die Autobahn und sind
nun an der Aare angelangt. Ein Fluss, an dem wir bis zum Ziel
weiterlaufen werden, denn die Laufstrecke wurde geändert. Die Gegend ist
flach und wird intensiv landwirtschaftlich genutzt, somit für die Augen
und das Gemüt reizarm. Der Regen wird schwächer, der kalte Wind ist weg
und überhaupt, es ist viel wärmer geworden. Endlich hört der Regen ganz
auf. Beim nächsten Verpflegungspunkt in Büren unweit einer malerischen
Holzbrücke, die über die Aare führt bestellen wir uns in einem Wirtshaus
heißen Kaffee. Es dauert, bis er serviert wird. Als ich bezahlen will,
muss ich hören, dass Euros nicht angenommen werden. Verständnislos
schaut mich die Kellnerin an, als ich behaupte, dass der Euro die
Weltwährung sei, und ein Schweizer Laufkollege, der ebenfalls pausiert,
lacht laut auf. Puh, es scheint tatsächlich, als wäre das Vertrauen in
den Euro erschüttert, was sich auch bei dem gegenwärtig sehr schlechten
Umrechnungskurs bemerkbar macht.
Der heiße Kaffee hat wieder gut getan, positive
Gedanken übernehmen wieder die Oberhand und ich freue mich, nicht wieder
bei tropische Hitze wie die Jahre zuvor an dieser schrecklichen
Landschaftsgärtnerei am gegenüber liegenden Ufer der Aare vorbeilaufen
zu müssen. Auf einer Straße unmittelbar am Fluss geht’s vorbei. Das
heißt ich gehe schnell, und Heinz-Peter läuft hinter mir her, da er
körpermäßig kleiner ist als ich. Mehrere teils wankende Läufer und Geher
überholen wir. Aber es sind nur noch wenige auf der Strecke zu sehen, da
ein viel größerer Teil als sonst durch den Höllenregen entnervt
aufgegeben hat.
Endlich ist das Schild km 90 da. Und eine gefühlt
unendliche Zeit dauert es noch bis km 90, wo sich die letzte VP
befindet. Mittlerweile habe ich Geschmack an Orangescheiben gefunden und
lange kräftig zu. Durst habe ich keinen mehr und trotzdem schütte ich
noch 2 Becher Cola aus müdigkeitsverhinderten Beweggründen in mich
hinein. Von nun an wird bei jedem einzelnen km ein betreffendes Schild
zu sehen sein. Und es dauert... Die km ziehen sich. Bei km 98 kommt uns
Freund Jörg entgegen und wird uns bis kurz vor’s Ziel begleiten. Er litt
stark unter der nassen Kälte. Als er bei km 38 in Oberramssern den Bus
sah, biss ihm der Innere Schweinehund in den Hintern und er flüchtete
hinein.
Km 99 kommt und ergreift die Vorfreude des
Zieleinlauftriumphs. Nach einigen Minuten sind wir auf dem blauen
Teppich, reißen die Hände hoch und marschieren gehobenen Hauptes durch
den Triumphbogen. Ich erlebe das jetzt in Biel schon das 10. Mal und bin
wieder genau so ergriffen und glücklich wie die Jahre zuvor.
Im Gegensatz zum vergangenen Jahr konnte ich die Strecke völlig
verletzungsfrei bewältigen. Während ich das schreibe, muss ich an ein
letztjähriges Erlebnis bei einem praktischen Arzt denken, den ich
aufsuchte, um mir den steckengebliebenen Kopf einer Zecke an einem
meiner Beine entfernen zu lassen. Ich hatte das Finisher-Shirt von Biel
getragen, und als ich ihn nebenbei fragte, ob das leichte Ziehen in
einem meiner Knien eine Arthrose sein könnte, sagte er: “Ich sehe gerade
auf dem Bildschirm, dass Sie 1945 geboren wurden, Sie also noch in
diesem Jahr 65 Jahre alt werden. Ich bin 42 Jahre alt und habe bereits
Arthrosen. Natürlich ist eine Arthrose, warum soll es denn keine sein?“
Auf mein Finisher-Shirt schauend, ereiferte er sich weiter: „Bilden Sie
sich bloß nicht ein, dass Sie mit Ihrem Supersport unsterblich sind! Sie
werden auch sterben!“ Ich meinerseits betrachtete seinen 42-jährigen,
nicht an Unterernährung leidenden Körper, mit dem er bei den Trierer
Antikenfestspielen sehr überzeugend den Weingott Bacchus darstellen
könnte und bemühte mich, ernst dreinzuschauen.
Grüezi, Bernhard
Infos:
www.100km.ch
(Finisher: 1.052 davon 15% Frauen)
Links:
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